LICHTER

Brachland des Wohlstands

Deutsch-polnische Geschichten

In 23 hatte sich Hans Christian Schmid einer Epoche verschrieben: den paranoiden 80ern. In Crazy einer verwirrten Lebensphase: der Pubertät. In seinem neuen Film Lichter ist es ein Ort. Genauer gesagt sind es zwei. Frankfurt an der Oder - die östlichste Stadt in Deutschlands Osten - und das benachbarte Slubice in Polen. Dazwischen liegt ein breiter ruhiger Fluss, eine Brücke und ein gigantischer Grenzkontrollpunkt.
An Frankfurt/Oder zieht das Leben auf der Autobahn vorbei. Die LKWs wälzen sich beladen mit den Konsumgütern des Goldenen Westens Richtung Polen, Russland und Ukraine. Auf der Gegenfahrbahn werden die Billigprodukte aus dem Osten nach Deutschland eingeführt. Für polnische Verhältnisse ist Slubice eine blühende Handelsstadt. Für deutsche Verhältnisse ist Frankfurt/Oder mit seiner zwanzigprozentigen Arbeitslosenquote eine Stadt auf verlorenem Posten.
Wer die Welt nach 1989 verstehen will, sollte hierher fahren. Denn an der Oder sind die Widersprüche mit den Händen greifbar. Hier prallen jeden Tag Welten aufeinander. Davon - vom Aufeinanderprallen - erzählt Hans-Christain Schmids Lichter , indem er Geschichten und Menschen dies- und jenseits der Oder parallel durch seinen Film führt. Gemeinsam ist den Leuten in Schmids Film nur, dass sie mehr als genug mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Kolja, der Flüchtling aus der Ukraine, will um jeden Preis über die Oder nach Berlin. Ingo, der Matrazenhändler, hat seinen Laden hoffnungslos in die Pleite geritten. Katharina, die aus dem Heim abgehauen ist, schlägt sich mit Zigarettenschmuggel durch. Antoni, der polnische Taxifahrer, kann das Kommunionkleid für seine Tochter nicht bezahlen, und Studentin Beata wiederum verdingt sich in Slubice als Hostess.
Mehr schlecht als recht schlagen sich die Menschen durch ihr kleines Leben. Da bleibt wenig Spielraum für Mitgefühl. Trotzdem gibt es sie, die kurzen Momente, in denen der Egoismus zurück gedrängt wird, weil das Gefühl, das Richtige tun zu müssen, die Oberhand gewinnt. Deshalb klaut der junge Andreas den Wagen seines Chefs, um seine Katharina aus dem Heim zu befreien. Deshalb sucht die Dolmetscherin Sonja in ganz Slubice nach Kolja, um ihn auf eigenes Risiko über die Grenze nach Deutschland zu bringen. Deshalb riskiert der junge Architekt Philip seinen Job, weil er nicht ertragen kann, dass seine Chefs nun auch noch Beatas Liebe kaufen wollen. Alle drei fallen auf die Nase, weil die Verhältnisse letztendlich stärker sind.
Mit seiner Loseblatt-Dramaturgie hat Hans-Christian Schmid die adäquate Form für sein widersprüchliches Untersuchungsgebiet gewählt. Fast jede einzelne Episode wäre einen eigenen Film wert gewesen. Einen Charakter kurz und knapp zu skizzieren ist allerdings eine Kunst für sich - eine, die Schmid leider nicht sehr gut beherrscht. Trotz der an sich offenen Struktur versucht er die einzelnen Linien parallel zu führen und mit einem ordentlichen Spannungsbogen zu versehen. In der dramaturgischen Gestaltung setzt sich schließlich doch ein Harmoniebestreben durch, das die Figuren in die gleiche, erkenntnisbringende Richtung drängt. Vielleicht ist Schmid einfach kein guter Mehrfach-Geschichten-Erzähler, sondern einer, der sich besser auf die Facetten des Einzelnen als auf den Einzelnen als Facette des großen Ganzen konzentrieren kann. Auch wenn Lichter nicht den Sog von 23 und Crazy entwickelt - sehenswert ist der Film trotzdem, weil er ein sehr genaues Porträt vom Brachland der Wohlstandsgesellschaft zeichnet, in dem wir uns schneller wiederfinden können, als wir es uns heute vorstellen möchten.

Martin Schwickert

D 2003 R: Hans-Christian Schmid B: Hans-Christian Schmid, Michael Gutman K: Bogumil Godfrejow D: Ivan Shvedoff, Alice Dwyer, Maria Simon