LIEBESLEBEN

Radikal subjektiv

Maria Schrader verfilmt den Bestseller von Zeruya Shalev als Kaleidoskop

Wie von einem elektrischen Schlag getroffen weicht Jara (Netta Garti) zurück, als er ihr die Tür öffnet. "Was ist mit meinen Eltern? Was haben Sie mit ihnen gemacht?" schreit sie den Unbekannten an, stürmt auf ihn zu und an ihm vorbei in die elterliche Wohnung.
Schon in den ersten dreißig Filmsekunden von Maria Schraders Regiedebüt sind die Grundkoordinaten der Geschichte gesetzt. Der Zustand vollkommener Irritation, mit dem die weibliche Hauptfigur wie eine Flipperkugel durch ihr eigenes Leben schießt, das wechselhafte Gefühl von Anziehung und Abstoßen, das Jaras Beziehung zu dem Mann in der Tür fortan bestimmen wird, und das Elternhaus, das mit ihrer seelischer Odyssee unsichtbar verbunden ist.
Jara ist Mitte Zwanzig, Studentin in Jerusalem mit Aussicht auf eine Assistentinnenstelle an der Uni. Zu Hause hat sie einen Ehemann, der manchmal mit dem Essen auf sie wartet, und ein neues Schlafsofa, das sich das junge Paar zusammengespart hat. Aber die Begegnung mit dem Jugendfreund des Vaters, der aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht ist, katapultiert sie aus der vorgezeichneten Lebensbahn. Unwiderruflich fühlt sich Jara zu dem attraktiven, graumelierten Arie (Rade Sherbedgia) hingezogen, obwohl er sie zurückweist und sexuellen Demütigungen aussetzt. Dennoch geht sie den masochistischen Weg radikaler Selbsterfahrung weiter, weil sie spürt, dass Arie der Schlüssel für die Geheimkammern ihres Lebens ist.
Maria Schrader hat sich keinen einfachen Stoff ausgesucht. Die Romanvorlage von Zeruya Shalev ist nicht nur ein gefeierter Bestseller, sondern auch ein Buch radikaler Subjektivität, das vor allem von den Innenansichten und Wahrnehmungsverschiebungen der Hauptfigur lebt. Schrader konzentriert sich auf den wechselhaften und schmerzhaften Verlauf der amour fou. Hineingeschnittene Tagtraumsequenzen suchen nach Bildern für den verwirrten Seelenzustand der Selbsterfahrungsheldin.
Die Hauptverantwortung trägt Netta Garti als Jara, die die drohende Selbstauflösung der Figur glaubhaft und ohne Anfälle von overacting beschreibt. Auch wenn der schmerzhafte Weg zur weiblichen Selbsterkenntnis manchmal schwer zu ertragen ist, kann man sich der Wirkung der Geschichte nicht entziehen, die sich zur Fragilität des Lebens bekennt und ihre radikale Subjektivität kompromisslos verteidigt.

Martin Schwickert

D 2007 R: Maria Schrader B: Maria Schrader, Laila Stieler . K: Benedict Neuenfels D: Netta Garti, Rade Sherbedgia, Tovah Feldshuh


Das Interview zum Film