»LOLITA«

Abgrund von Ernst

Nach einem Jahr aus dem Giftschrank der Verleiher: Adrian Lynes Nabokov- Version

Ein skandalumwitterter Roman, der nach pädophilen Altmännerobsessionen riecht, nach der Kubrik-Adaption von 1962 jetzt verfilmt vom wohl erfolgreichsten Feucht-Filmer unserer Zeit, Adrian Lyne: Klingt nicht nach einer besonders guten Idee. Die Beteuerungen, die 97er Lolita sei "eine verblüffend werkgetreue Adaption des Romans, wie sie 1962 undenkbar gewesen wäre" legt die Erwartung nahe, heute bekäme man endlich das zu sehen, was Nabokov zwar geschrieben, man aber seinerzeit im Kino nicht habe zeigen können: Sex mit Minderjährigen. Tja, und allen, die sich darüber beschweren, daß im Film nichts zu sehen sei, aber auch gar nichts, wird dann ihre Unbelesenheit um die Ohren gehauen werden, weil ja auch im Roman nichts passiert, das heißt, es passiert schon was, und dieses "was" ist auch genau das, was dann im Kino so schmerzlich vermißt wird, nur hatte Nabokow etwas anderes zu tun, als erotische Umarmungen zu beschreiben. Ihn interessierte vielmehr die Besessenheit seines Helden Humbert Humbert (Nabokov: "Ein besonders übel klingender Name"), der in einer - nicht aus moralischen Gründen - unerfüllbaren Liebe zur zwölfjährigen Dolores Haze gefangen ist.
Lyne beginnt seinen Film am Ende, wenn ein blutbesudelter, bedeutungsschwer mit einem Revolver hantierender Humbert Humbert in Schlangenlinien eine kleine Straße in idyllischer Landschaft entlangfährt. Dazu erzählt er aus dem Off seine Geschichte. Er habe sich als Pubertierender in eine Gleichaltrige verliebt und sei wiedergeliebt worden, kurz darauf sei sie gestorben, und seitdem sei er bestimmten Mädchen zwischen neun und 14 verfallen, die er Nymphchen nennt. Lyne illustriert diese Rückblenden in einem leicht aufgepeppten David-Hamilton-Stil und läßt sie von Ennio Morricone mit dessen bewährten Klängen untermalen, was aber irgendwie ganz gut zusammenpaßt und den größtmöglichen Kontrast zu den Gegenwarts-Bildern schafft. Dann beginnt der eigentliche Film, auch eine Rückblende. Humbert (jungenhaft: Jeremy Irons) mietet sich bei der Witwe Charlotte Haze (außerordentlich uneitel: Melanie Griffith) ein, die eine Tochter hat. Und in der ersten Begegnung zwischen Humbert und Lolita (recht niedlich: Dominique Swain) wird klar, in welcher Gefühlsspanne sich Lynes Lolita bewegt. Humbert steht nämlich blöd glotzend da, offensichtlich seines freien Willens beraubt, während Lolita im Garten in der Nähe eines Rasensprengers in einem dünnen, nassen Kleidchen bäuchlings auf der Grasnabe Comicheftchen liest. Ein Bild wie aus der Kaugummireklame, übergroß und übertrieben, sehr wirkungsvoll, knapp an der Grenze des handfesten Kitsches und gleichzeitig belustigend, weil das, was man da sieht, einfach nicht wahr sein kann.
Für Humbert ist es wahr, das ist sein Drama. Und auch Lolita weiß offensichtlich sehr genau, was los ist, genießt die Situation, läßt sich umwerben und flirtet sehr offensiv zurück. Kurzum: sie bringt Humbert um den letzten Rest Verstand. Um näher bei Lolita sein zu können, gibt Humbert dem Werben der Witwe nach und heiratet sie. Die allerdings findet Humberts wahres Motiv heraus, will ihn verlassen - und wird, während sie außer sich über die Straße rennt, von einem Auto überfahren. Glück für Humbert, der Lolita jetzt für sich hat und mit ihr eine jahrelange Reise durch die USA beginnt. Natürlich schlafen die beiden miteinander, und das nicht auf Initiative Humberts, aber auch Lyne interessiert viel mehr, was mit Humbert passiert, wie er allmählich durchdreht, weil er sehr genau spürt, daß so eine Beziehung zu einer Schutzbefohlenen nicht unbedingt das ist, was Lolita langfristig glücklich machen wird. Außerdem bleibt sie ja nicht die süße 14jährige, sondern entwickelt auch gegen Humberts Widerstand ein eigenes Leben, was für ihn Konkurrenz bedeutet, die besonders schmerzhaft ist, weil ein zweiter Herr in Lolitas Leben tritt, der in Lynes Film immer schemenhaft-geheimnisvoll im Halbschatten verharrende Quilty (Frank Langella).
Adrian Lynes Lolita ist doch eine gute Idee. Überdeutlich, mit filmischen Holzhammer-Methoden wie verkanteten und verzerrten Bildern und den beschriebenen Weichzeichner-Effekten, sehr liebevoll ausgestattet und extrem gediegen inszeniert, hat Lyne seine eigene Werbeästhetik weiterentwickelt und adäquate Bilder für Humberts Zerrissenheit gefunden. Das funktioniert deshalb so gut, weil gleichberechtigt neben den Abgründen von Ernst auch Ironie bis zum Klamauk besteht. Lynes Humbert ist eine lächerliche Figur, die erträglich wird und Tiefe gewinnt, weil sie von ihrer Lächerlichkeit weiß. Und Lynes Lolita ist trotz mancher Längen ein schöner und unterhaltsamer Film, weil er seiner Vorlage mit nicht mehr als dem nötigen Ernst begegnet.

Jens Steinbrenner