Lore

Trümmerland

Ein braves deutsches Mädel nach ´45

Er kommt, Mutti, oder?" - "Wer?" - "Der Endsieg?". Die Mutter schaut ihre älteste Tochter entgeistert an, antwortet nicht und wendet sich ab. Es gibt nichts mehr zu sagen. Der Krieg ist vorbei und verloren, und für die Familie bricht eine Welt zusammen. Der Vater (Hans-Jochen Wagner), ein wohl genährter, hochrangiger Nationalsozialist, ist nachts mit einem Lastwagen vorgefahren, hat seine Frau, die fünf Kinder und ein paar Koffer eingeladen, dem Schäferhund den Gnadenschuss gegeben, seine Familie zu einer Hütte im Schwarzwald gefahren und ist wieder in der Nacht verschwunden. Weil sie weiß, dass man auch sie holen wird, setzt sich bald darauf auch die Mutter (Ursina Lardi) mit einem Koffer in der Hand ab und lässt die 15-jährige Lore (Saskia Rosendahl) zurück mit den jüngeren Geschwistern und ein paar Schmuckstücken. Sie sollen sich zur Großmutter durchschlagen, die auf einer Nordseeinsel wohnt.

Und so machen sich die Kinder auf durch das besiegte Land, in dem Faschismus und Krieg die Seelen der Menschen verwüstet haben und jeder sich selbst der Nächste ist. Konsequent aus der Perspektive der Kinder, für die die NS-Ideologie bisher das einzig gültige Wertesystem darstellte, blickt die australische Regisseurin Cate Shortland (Somersault) in ihrem neuen Film auf den Zerfall der Ordnungsstrukturen. Der Verlust der Eltern ist erst der Anfang eines langsamen, schmerzhaften Erkenntnisprozesses, der für das Mädchen mit dem plötzlichen Erwachsenwerden und ersten Liebesgefühlen zusammenfällt.

"Ich weiß, was du bist" sagt sie zu Thomas (Kai Malina), der eine Nummer auf dem Unterarm hat, und verbietet ihm das Brot anzufassen, das sie und ihre Geschwister noch essen wollen. Trotzdem begleitet der junge Mann die Kinder. Mit seinen Papieren und dem Judenstern kommen sie durch die Kontrollen der Alliierten, und mit Lores einjährigem Bruder auf dem Arm lässt es sich besser um etwas Essen betteln.

Frei von dramaturgischen Zwängen lässt Shortland ihre jungen Protagonisten durch die ländlichen Regionen des Nachkriegsdeutschlands treiben. Die Sicht des Filmes, der auf dem Roman Die Kammer von Rachel Seiffert beruht, ist der kindlichen Wahrnehmungsweise angepasst, die über genau beobachtete Details funktioniert, welche nur punktuell auf größere Zusammenhänge verweisen. Lore ist das beste Beispiel dafür, dass man keine Ausstattungsorgien braucht, um Geschichte zu rekonstruieren. Einige präzise Ausschnittvergrößerungen reichen aus, um eine Zeit wieder auferstehen zu lassen, wenn die Geschichte und die Figuren glaubwürdig genug sind. Lore ist ein Film von atemberaubender Härte und Schönheit, der vom schmerzhaften Prozess der Erkenntnis erzählt, den das Mädchen auf seiner Reise als eine Art Selbstentnazifizierung durchlebt. Die höchst talentierte 18-jährige Saskia Rosendahl spielt diese Lore mit einer Energie und Verletzlichkeit, die sich perfekt in die fein nuancierte Erzählung und die poetischen Bildkompositionen einfügt.

Martin Schwickert

Australien/D/GB 2012 R: Cate Shortland B: Cate Shortland, Robin Mukherjee nach dem Roman "Die Kammerö von Rachel Seiffert K: Adam Arkapaw D: Saskia Rosendahl, Kai Malina, Nele Trebs