»MAGNOLIA«

Große Gesten

Tode und Schicksale im San Fernando Valley

Wie kommt ein toter Taucher in den Baumwipfel, und warum erliegt der Selbstmörder, der sich vom Dach stürzt, ausgerechnet einer Schussverletzung? P.T. Andersons Magnolia beginnt mit der Beschreibung von unglaublichen Zufallsereignissen. Der Froschmann wurde von einem Löschflugzeug aus dem See gesaugt und starb an einem Herzinfarkt, bevor er über dem brennenden Wald abgeworfen wurde. Der junge Selbstmörder flog gerade in dem Moment am Fenster eines sich streitenden Ehepaares vorbei, als sich ein Schuss aus dem Gewehr löste und landete tot im Sicherheitsnetz einer Fensterputzfirma. Die Frau mit der Flinte war die Mutter des Jungen, und der Sohn hatte die Waffe Tage zuvor selbst geladen, um dem Ehekrieg ein Ende zu bereiten.
Die humorvoll rekonstruierten Tatsachenberichte im Prolog fixieren das übergeordnete Thema von P.T. Andersons Magnolia . Es geht um die dünne Grenze zwischen Zufall und Schicksal, um die verbindende Gleichzeitigkeit von Ereignissen, um exaktes Timing und die Bumerang-Effekte des Lebens. Wie Altmans Klassiker Short Cuts , so begibt sich auch Magnolia nach San Fernando Valley, Los Angeles, und verbindet neun gleichberechtigte Hauptfiguren in einer ausgefeilten Loseblatt-Dramaturgie miteinander.
Der Fernsehproduzent Partridge (Jason Robards) liegt im Sterben und schaut reuevoll auf sein verkorkstes Leben zurück. Seine deutlich jüngere Frau (Julianne Moore) hat ihn nur wegen des Geldes geheiratet und kämpft mit Schuldgefühlen, weil sie sich viel zu spät in ihren Mann verliebt. Partridges letzter Wunsch ist es, sich mit seinem Sohn Frank zu versöhnen, den er vor langer Zeit samt todkranker Mutter verlassen hat. Frank (Tom Cruise) ist inzwischen ein gut verdienender Psycho-Guru, der feminismus-geschädigten Männern in Macho-Show-Lehrgängen zu neuem Selbstbewusstsein verhilft.
Nach über 12.000 Sendestunden sieht auch der krebskranke Game-Show-Moderator Jimmy Gator (Philip Baker Hall) seinem Ende entgegen. Trotzdem ist seine kokssüchtige Tochter (Melora Walters) nicht bereit, sich mit dem totkranken Vater zu versöhnen. Die lautstarke Auseinandersetzung führt zu einer Anzeige wegen Ruhestörung und treibt der verlorenen jungen Frau einen herzensguten Polizisten (John C. Reilly) in die Arme. In Gators Quiz-Show wird der kleine Stanley (Jeremy Blackman) als Wunderkind gefeiert und von seinem geldgierigen Vater zu neuen Höchstleistungen getrieben. Donnie Smith (William A. Macy) brachte es in den 70ern als "Quiz-Kid" zu landesweitem TV-Ruhm und fristet nun als lebensuntüchtiger Hilfsverkäufer sein trostloses Dasein.
In einer atemlosen Parallelmontage stellt Magnolia seine verzweifelten Figuren am Rande des glamourösen Showbusiness vor und treibt jede Lebensgeschichte zu einem alles entscheidenden Wendepunkt ohne Happy-End-Garantie.
In Altmans Short Cuts war es ein Erdbeben, das die verkrusteten Strukturen aufbrechen ließ, Magnolia wartet mit einem reinigenden Amphibiengewitter auf. Schuld und Sühne, biblische Plagen, verlorene Söhne und reuige Väter - P.T. Anderson ( Boogie Nights ) schreckt nicht vor großen Gesten zurück und versetzt seine Geschichte mit religiösen Verweisen und dunkler Familienpsychologie. Aber gerade die emotionale Wucht des Films wirkt überzeugend. Elementare Lebensfragen werden hier geradlinig angesteuert, ohne dass der Film in seichte Dramatik verfällt. Das 3-Stunden-Epos entwickelt von der ersten Minuten an eine packende Sogwirkung und die hochkarätige Darstellerriege (v.a. Tom Cruise) zeigt sich in konzentrierter Höchstform. Nach American Beauty ist Magnolia ein weiterer Hoffnungsschimmer am Hollywood-Horizont.

Martin Schwickert