DAS MEER IN MIR

Der lange Abschied
Alejandro Amenábar wagt sich ans Thema Sterbehilfe

Der Blick aus dem Fenster geht über Wiesen und Berge in Richtung Meer. Manchmal, wenn der Wind richtig steht, kann Ramón (Javier Bardem) die Seeluft riechen und das Rauschen der Wellen erahnen. Seit 27 Jahren schaut er durch dieses Fenster. Der kleine Bildausschnitt ist alles, was er von der Außenwelt zu sehen bekommt. Ramòn war einmal Seemann. Er weiß um die Weite der Welt. Ein unachtsamer Sprung ins Wasser - seitdem ist er von Hals ab gelähmt. Ramón will sterben und er will es so fest, wie ein Mensch nur etwas wollen kann.
Ramón führt einen hartnäckigen Kampf mit Staat, Kirche und Medien um das Recht, sein eigenes Leben beenden zu dürfen. Die, die ihn lieben und pflegen, der Bruder, die Schwägerin, seine Rechtsanwältin Julia und die junge Fabrikarbeiterin Rosa - sie alle bringen es nicht übers Herz, das Gift in den Becher zu rühren, obwohl Ramón genau diesen letzten Liebesbeweis vehement einfordert.
Ramón Sampedro gab es wirklich. Irgendwann hat er es geschafft. Heimlich und allein. Sein letztes Statement wurde von allen spanischen Fernsehstationen übertragen und löste im Land eine breite Debatte aus. Alejandro Amenábar hat aus Sampredos Kampf um einen selbstbestimmten Tod einen Spielfilm gemacht. Ein Wagnis, nicht nur wegen der ethischen Fallstricke, die das Thema in sich birgt, sondern auch wegen der Gefahr der Melodramatisierungen.
Das Meer in mir meistert den Balanceakt. Nur an den Rändern kitscht der Film ein wenig aus, verlässt sich aber sonst auf die differenzierte Charakterisierung von Ramón Sampedro, von Javier Bardem mit charismatischer Bravour portraitiert. Sein Ramón ist kein Zyniker oder Todessehnsüchtiger, der Mann versteht etwas vom Leben, strahlt Erfahrung und geistige Agilität aus.
Darf man jemanden zum Leben zwingen? Wieviel Egoismus steckt in der Liebe? Was bedeutet Würde? Amenábar stellt diese Fragen auf berührende, sinnliche Weise, mit einem Hauptdarsteller und einem Ensemble, das so viel Energie auf der Leinwand versprüht, dass man die Düsternis des Sujets fast vergisst.

Martin Schwickert
Mar Adentro. SP 2004 R: Alejandro Amenábar B: Alejandro Amenábar K: Javier Aguirresarobe D: Javier Bardem, Belén Rueda, Lola Dueñas