MINORITY REPORT

Endlich schmutzig

Steven Spielberg setzt mal nicht auf Versöhnliches

Mit Filmemachern ist es ein wenig wie mit Politikern. In wilden Jugendjahren erregen sie mit gewagten Produktionen die Aufmerksamkeit des Publikums und verlieren dann auf dem langen Marsch durch die Institutionen ihren radikalen Elan. Die Karriere von Steven Spielberg verlief in umgekehrter Richtung. Von Der weiße Hai (1974) über E.T. (1982) bis hin zu Jurassic Park (1993) wollte er immer nur eins: perfekte Unterhaltungsware für die ganz breite Masse liefern. Erst spät durch seine Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Schindlers Liste (1993) hielt politisches Denken in sein Werk Einzug. Seitdem versuchte Spielberg in Amistad (1997), Der Soldat James Ryan (1998) und zuletzt in A.I.- Künstliche Intelligenz (2001) Anspruchs- und Unterhaltungskino miteinander zu verbinden - und scheiterte dabei regelmäßig am eigenen Versöhnlichkeitswahn. Auch wenn seine Filme durch die Hölle gingen, früher oder später endeten sie immer wieder in der heilen Welt.
Mit Minority Report wollte Spielberg nun "den hässlichsten und schmutzigsten Film" seiner Karriere machen, und tatsächlich hält er sein düsteres Zukunftsszenario mit ungewohnter Kompromisslosigkeit durch.
Im Jahre 2054 kann man nicht nur die Gegenwart der Menschen überwachen, sondern auch in deren Zukunft sehen. "Precrime" nennt sich das Pilotprojekt einer privaten Überwachungsgesellschaft in Washington D.C., die Verbrechen bekämpft, bevor sie begangen werden. Wie Embryos schwimmen die sogenannten "Precogs" - menschliche Wesen mit hellseherischen Fähigkeiten - in einem überdimensionalen Fruchtwasserbecken. Die Flüssigkeit hält die Orakelwesen in einem künstlichen Dämmerzustand und leitet ihre Mordvisionen weiter an die digitale Verwertungsmaschinerie. Hoch oben im tempelartigen Gebäude steht John Anderton (Tom Cruise) vor einem gläsernen Großbildschirm und ordnet zu klassischer Orchestermusik die eingehenden Alptraumbilder. Sobald Täter und Tatort eindeutig ausgemacht sind, schwärmt das Spezialkommando aus und stürmt die Wohnung, kurz bevor der eifersüchtige Ehemann seine untreue Frau mit der Schere erstechen kann. Dann jedoch schickt das unbestechliche Orakel Visionen auf den Bildschirm, die zeigen, dass Anderton selbst in genau 36 Stunden einen unbekannten Mann erschießen wird. So wird der Verfolger zum Verfolgten und versucht, auf der Flucht vor einem nahezu lückenlosen Überwachungssystem, seine Unschuld zu beweisen.
Basierend auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick entwirft Steven Spielberg ein düsteres Zukunftsszenario, das sehr nah an der Gegenwart gebaut ist. Spielberg zeigt eine Gesellschaft, die zum Opfer ihres eigenen Sicherheitsdenkens wird. Mehrfach verriegelte Türen, Alarmanlagen, Videoüberwachung und die Pistole in der Nachttischschublade gehören in den USA längst zum normal-neurotischen Alltag, und nicht erst seit dem 11.9.wird dieser Selbstschutzwahn auch auf die Weltpolitik übertragen. Nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch wird Minority Report fest mit der Gegenwart verschnürt. Organisch werden die futuristischen Bauten und Verkehrswege in die heutigen Großstadtlandschaften eingefügt. Kameramann Janusz Kaminski taucht die Szenerie in kaltes, stahlgraues Licht, und das unterkühlte Superstar-Image von Tom Cruise passt sich nahtlos ins perfektionierte Szenario ein.
Minority Report ist vieles in einem: eine klassische "whodunit"-Geschichte, ein Technikspektakel im Popcorn-Format, ein ästhetisch stimmiges, kulturpessimistisches Zukunftsgemälde und ein flammendes Plädoyer gegen die Entmenschlichung durch die technisierte Gesellschaft. Mit Minority Report ist es dem Mainstream-Magier endlich gelungen, den Widerspruch zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Inhalt und Technik, zwischen Anspruchs- und Unterhaltungskino gewinnbringend aufzulösen.

Martin Schwickert

USA 2002 R: Steven Spielberg B: Scott Frank, Jon Cohen nach einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick K: Janusz Kaminski D: Tom Cruise, , Colin Farrell, Samantha Morton