MULHOLLAND DRIVE

Straße der Finsternis

David Lynch wühlt wieder

Vielleicht ist David Lynch ( Blue Velvet/Twin Peaks/Lost Highway ) der einzige Hirnforscher unter den Filmemachern. Er schaut den Menschen nicht nur ins Gesicht, sondern direkt in den Kopf. So unübersichtlich wie die Windungen des Gehirns ist auch die Straße, nach der der Film benannt ist. Der Mulholland Drive arbeitet sich in engen Serpentinenkurven hoch über die Stadt der Träume. Los Angeles verschwimmt von hier oben zu einem schemenhaften Lichtermeer. Auf der verschlungen Straße überlebt eine unbekannte Schöne (Laura Elena Harring) als Einzige einen Unfall, flüchtet in die Dunkelheit und versteckt sich in einer verlassenen Wohnung.
Am Morgen danach landet Betty (Naomi Watts) in L.A.. Die naive Blondine aus der kanadischen Provinz führt den Traum vom Schauspielerruhm in Hollywood mit im Gepäck. Im Apartment ihrer Tante trifft sie auf die Unbekannte, die durch den Unfall ihr Gedächtnis verloren hat und sich nach einem Blick auf ein Hayworth-Plakat Rita nennt. Die beiden Frauen machen sich auf die Suche nach Ritas wahrer Identität, geraten gemeinsam in Gefahr und verlieben sich ineinander.
Auf einer zweiten Erzählebene begegnet man einem jungen, erfolgreichen Regisseur (Justin Theroux), der die weibliche Hauptrolle seines neuen Films auf Drängen mafioser Geldgeber umbesetzen soll. In die doppelte Handlungsführung werden zunehmend Zweifel an der Realitätstauglichkeit der Geschichte eingearbeitet. Ein Rentnerpaar, das Betty aus dem Flughafen geleitet hat, verfällt eine Einstellung später in morbides Gelächter. Ein Mann erzählt in einem Diner von seinem Alptraum, schaut auf dem Parkplatz dem Bösen ins Gesicht und fällt tot um. Ein mysteriöser Cowboy, ein ungeschickter Auftragskiller und ein Mafia-Pate, der vor einem roten Vorhang residiert, komplettieren das groteske Lynch-Universum. Die schleichende Kamera von Peter Deming verbirgt oft mehr, als sie zeigt. Die Geräuschkulisse ist abgepuffert, als seien alle Räume rundherum mit Teppichen verhängt. Schließlich lässt ein Schlüssel, der in eine blaue magische Schachtel eingeführt wird, in der letzten halben Stunde die Handlung kollabieren. Möglicherweise war alles, was man bisher zu sehen bekam, nur geträumt. Aber die Realität, die folgt, erscheint noch grausamer als die Alpträume zuvor. Unweigerlich fängt man an, den Film rückwärts zu lesen, noch bevor der Abspann über die Leinwand rollt. Auch im eigenen Kopf beginnen sich, die Ebenen zu überlagern.
Wer diesen Film verstehen will, darf ihn nicht verstehen wollen. Man muss seine Schutzschilder einfahren und die Vernunftsysteme abschalten, die alle Wahrnehmungen in die geordneten Bahnen der Logik lenken. Dann hat man eine Chance, sich in David Lynchs Mulholland Drive zurechtzufinden. Eigentlich sollte Mulholland Drive der Pilotfilm zu einer neuen Fernsehserie ... la Twin Peaks werden. Der Sendeanstalt war der Stoff jedoch zu düster, und so arbeitete Lynch das Material zu einem Kinofilm um. Das erklärt vielleicht die vielen Fährten, die ausgelegt und nur teilweise wieder eingesammelt werden. Schon oft wurde im Kino über Sein und Schein in Hollywood philosophiert. Noch nie ist jedoch ein Film in die Alptraumwelten der Traumfabrik hinabgestiegen. Lynch erzählt von den Sehnsüchten und Ängsten, die sich hinter der Fassade von Ruhm und Erfolg verstecken, und er tut das mit seiner typischen Mischung aus Komik, Suspense und einer guten Portion Psychoanalyse. Herausgekommen ist ein interessantes Verwirrspiel ohne Lösungsheft und ein wunderbar eigenwilliges Kinoerlebnis, in dem zu jeder Zeit alles möglich zu sein scheint.

Martin Schwickert

USA/F 2001 R&B: David Lynch K: Peter Deming D: Naomi Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux