NÄCHTE DER ERINNERUNG / BRINGING OUT THE DEAD

Wahn in Manhattan

Martin Scorsese ist wieder in New York

Knapp 25 Jahre nachdem der junge Robert DeNiro als Taxi Driver durch den Big Apple streifte, kehren Drehbuchautor Paul Schrader und Regisseur Martin Scorsese wieder zurück in die Straßenschluchten von New York.

Durch den Großstadtdschungel führt diesmal ein überarbeiteter Rettungssanitäter. Nacht für Nacht rast Frank (Nicolas Cage) mit dem Ambulanzwagen durch Hells Kitchen, wo die Menschen mit verkürzten Halbwertszeiten leben. Junkies, Prostituierte, Obdachlose - die Gesichter verfolgen Frank bis in den Schlaf. Seit Monaten hat Frank niemanden mehr gerettet. Die Leute sterben in seinen Händen, als läge ein Fluch über ihm. Nachts sieht er die Totengeister auf den Straßen, und der berufliche Alltag entwickelt sich zum spirituellen Alptraum.

Seine Kollegen kompensieren den täglichen Sanitätshorror auf andere Weise: Walls (Tom Sizemore) flüchtet sich in blutlüsternen Sadismus, und Marcus (Ving Rhames) verwandelt jeden Wiederbelebungsversuch in ein religiöses Auferstehungs-Happening. Während eines Einsatzes lernt Frank Mary (Patricia Arquette) kennen. Ihr Vater fällt nach einen Herzanfall ins ewige Koma, und auch dieser Halbtote fordert von seinem Lebensretter Sterbehilfe. Für den kriselnden Notarzt wird Mary schließlich zum letzten Fixpunkt in einer sich auflösenden Wirklichkeit.

Mit Nächte der Erinnerung zeichnet Altmeister Scorsese ein fast schon surreales Großstadtporträt aus der verengten Perspektive eines Rettungssanitäters. Die Menschen, die die Ambulanz von der Straße sammelt, sind am Ende der sozialen Hierarchie und zumeist auch am Ende ihres Lebens angelangt. Im New York der frühen 90er lagen die Wunden der Stadt noch offen. Erst später säuberte Bürgermeister Giulliani mit einer rigiden Law-and-Order-Politik die Straßen von Manhattan und verdrängte Kriminalität und Elend von der Oberfläche.

Scorsese färbt seinen unbarmherzigen sozialen Realismus mit spirituellen Eintrübungen und subjektiven Verzerrungen. Die Notaufnahme des Krankenhauses gleicht einem brodelnden Hexenkessel, auf der Straße recken sich aus den Kanaldeckeln die Hände untoter Geister, die Lichter der Stadt verschwimmen auf der Netzhaut der Kamera zu einem grellen Farbdelirium. Die Wahnvorstellungen des geplagten Sanitäters werden durchaus nachvollziehbar, und Nicolas Cage kann hier schauspielerisch an seine Krisenerfahrungen als todeswütiger Alkoholiker in Leaving Las Vegas anknüpfen.

Ein wenig befremdlich sind die aufdringlichen religiösen Verweise: umherschwebende Seelen, eine jungfräuliche Zwillingsgeburt, Wiederauferstehungs-Szenarien und Patricia Arquette als fragile Marienfigur, die die verlorene Sanitäterseele rettet. Die religiösen Trash-Elemente werden hier einerseits ironisiert und streben dennoch gleichzeitig nach einem sinnvollen Subtext - eine Mischung, die nicht so recht funktionieren will. Nichtsdestotrotz ist Nächte der Erinnerung eine brillant umgesetzte Großstadtmeditation, in der Wahn und Wirklichkeit aus der Notarztperspektive zu einem bizarren Filmgemälde verschmelzen.

Martin Schwickert