»WENN DER NEBEL SICH LICHTET«

Allein in Alaska

John Sayles beobachtet wieder Menschen

Autor und Regisseur John Sayles ist einer der interessantesten amerikanischen Heimatfilmer. Mit ungeheurer Genauigkeit beschreibt er von Film zu Film den Zustand der USA jenseits der großen Vorzeigemetropolen, und wie kein anderer versteht er es, seine Figuren in Beziehung zu Landschaften und Region zu setzen. City of Hope beschrieb die korrupten Funktionsmechanismen einer Stadt in New Jersey, Passion Fish war im sumpfigen Louisiana angesiedelt, und in Lone Star porträtierte Sayles zuletzt eine staubige Kleinstadt nahe der texanisch-mexikanischen Grenze.
Für Wenn der Nebel sich lichtet reiste Sayles an die nördlichste Grenze des amerikanischen Hoheitsgebietes: nach Alaska. Hier liegen die Goldgräberjahre lange zurück, selbst die örtliche Lachsfabrik in der Hauptstadt Juneau steht vor der Schließung. Es bleiben die Kreuzfahrtschiffe, die im Hafen anlegen, um natursüchtige Touristengruppen durch die imposante Landschaft des nördlichsten Bundesstaates zu führen. Der Bürgermeister träumt davon, Alaska in einen gigantischen Themenpark zu verwandeln.
Der Film stellt seine Figuren während einer Sponsorenparty vor: Da ist das in die Jahre gekommene lesbische Paar Frankie (Kathryn Grody) und Lou (Rita Taggert), das mit viel Unternehmensgeist die gastronomische Betreuung übernommen hat. Auf der Bühne gibt die Folk-Rock-Sängerin Donna (Mary Elisabeth Mastrantonio) einige Balladen zum besten und trennt sich on stage effektvoll von ihrem Geliebten. Ihre Tochter Noelle (Vanessa Martinez) serviert derweil Lachshäppchen und fühlt sich in ihrer Kellnerinnen-Uniform ebenso unwohl wie in ihrem gesamten pubertierenden Dasein. Szene für Szene umkreist der Film die Figuren, belauscht Gespräche in Pubs, in der Fischfabrik und auf Hotelzimmern. Langsam werden die Charaktere und die soziale Struktur der Alaskagemeinde erkennbar. Unmerklich beginnt sich der Film auf Donna und Joe zu konzentrieren. Donna, die als Barsängerin durch alle amerikanischen Bundesstaaten getingelt ist, ohne je zum erhofften Ruhm zu gelangen, hat auch bei Männern nie das große Los gezogen. Joe - bis zu einem Schiffsunglück vor 25 Jahren ein begeisterter Fischer - führt als Gelegenheitsarbeiter ein zurückgezogenes Leben. Mit großer Vorsicht beginnen die beiden Mittvierziger eine Affärel, und ihre abgeklärte Art der Annäherung ist um einiges spannender als all die wilden Romanzen des Hollywoodkinos. Nach einer knappen Kinostunde kappt der Film plötzlich alle mühsam gesponnenen Erzählfäden. Ein Segeltörn endet im Desaster und verwandelt sich für Joe, Donna und Noelle zu einem unfreiwilligen Survival-Trip auf einer vollkommenen verlassenen Insel. Die Ausweglosigkeit und Intimität der Situation lassen keine Distanz mehr zu. Mit aller Verletzbarkeit ist man aufeinander angewiesen, und ob die drei wirklich gerettet werden, bleibt bis zum Schluss offen.
Man weiß nicht, ob man Regisseur John Sayles diesen rasanten dramaturgischen Kurswechsel und das geradezu schmerzend offene Ende verzeihen oder ihn dafür verdammen soll. Aber gerade die Ungewissheit ist die eigentliche Stärke des Films, in dem ohne viel Aufhebens alles anders kommt, als der geübte Zuschauer es erwartet.
Mary Elisabeth Mastrantonio und David Strathairn spielen ihre Figuren mit einer virtuoser Zurückhaltung, die die Neugier des Publikums fest an sich bindet. Sayles entdeckt seine Figuren, erkundet immer neue Facetten ihres Charakters und setzt sich damit wohltuend vom heutigen Kino-Klischee-Betrieb ab.

Martin Schwickert