NORDRAND

Wonderland

Beobachtungen aus Wien

Der Zustand einer Gesellschaft lässt sich von ihren Rändern oft am besten überblicken. In ihrem Spielfilmdebüt Nordrand schaut die österreichische Regisseurin Barbara Albert von den Außenbezirken auf ihre Heimatstadt Wien. In den Betonburgen türmen sich die sozialen Probleme, und wer hier das Glück sucht, hat einen weiten Weg vor sich. Nordrand begleitet ein Hand voll junger Leute, die die Hoffnung auf eine Abkürzung nicht aufgegeben haben. Jasmin (Nina Proll) haust mit Eltern und Geschwistern in einer engen Neubauwohnung und ist dort den tätlichen Übergriffen des Vaters ausgesetzt. Trotzdem lebt die junge Konditoreiverkäuferin mit naiver Sorglosigkeit in den grauen Alltag hinein und tröstet sich mit übermäßigem Verzehr von Schokolade und Männern über die Zustände hinweg. Im Wartezimmer einer Abtreibungsklinik trifft sie ihre frühere Mitschülerin Tamara wieder. Tamara (Edita Malovcic) ist die Tochter serbischer Gastarbeiter und nimmt ihren Traumberuf als Krankenschwester sehr ernst. Ihre Eltern sind noch vor Ausbruch des Krieges nach Sarajewo zurückgekehrt, und die Sorge um die Familie begleitet Tamara als dunkler Schatten. Ihr Freund leistet seinen Militärdienst beim österreichischen Bundesheer und sichert die Grenze gen Osten. Auf der anderen Seite wartet der Bosnier Senad (Astrit Alihajdaraj) auf eine Gelegenheit sich unbemerkt hinüber zu schleichen. Für den rumänischen Flüchtling Valentin (Tudor Chirilá) hingegen ist Wien nur einen Zwischenstation. Er träumt von Amerika und verdient sich mit kleinen Schiebereien das Geld für die Ausreisepapiere.

Nach dem großstädtischen Zufallsprinzip überkreuzen sich die Wege der Protagonisten. Man lernt sich kennen, hilft und liebt einander im kalten Wiener Winter. Kurze Freundschaften entstehen, die im Strudel der Zeit zwar keinen Bestand haben, aus denen die Beteiligten jedoch gestärkt hervorgehen. Barbara Albert wandelt mit Nordrand auf einem schmalen Grat. Sie schaut der sozialen Realität genau ins Auge, ohne vor ihr zu kapitulieren. Sicher, die Tage sind kalt und der Himmel grau. Aber der Blick auf die Figuren ist warmherzig, auch wenn die Episodenstruktur des Films kein gültiges Happy End vorzuweisen hat

Martin Schwickert

Österreich/D/Schweiz 1999 R: Barbara Albert D: Nina Proll, Edita Malovcic, Tudor Chirilá, Astrit Alihajdaraj