No Turning Back

Allein unterwegs

Ein Mann, ein Auto, eine Freisprechanlage

Es ist Nacht. Die Scheinwerfer leuchten die gigantische Grube einer Großbaustelle aus. Einer der Arbeiter verlässt das Areal, schließt sein Auto auf, zieht die schweren, zementverdreckten Arbeitsstiefel aus und startet seinen Wagen. Knapp eineinhalb Autostunden auf der Fahrt von Birmingham nach London liegen vor ihm - und auch vor uns.

Ein Mann. Ein Auto. Eine telefonische Freisprechanlage. Mehr braucht Regisseur Steven Knight nicht, um eines der spannendsten Dramen der jüngeren Kinogeschichte in Szene zu setzen. Dabei liegt die Faszination hier nicht in dem minimalistischen Konzept, sondern darin, dass man dieses Konzept schon nach wenigen Minuten vergisst.

Über die Gespräche, die der Betonbauer Ivan Locke (Tom Hardy) von seinem Autotelefon aus führt, fächert No Turning Back innerhalb kürzester Zeit das Leben eines Mannes auf, das kurz vor dem privaten und beruflichen Kollaps steht. Dabei ist Locke ein Mann, der es gewohnt ist die Dinge im Griff zu haben. Als Vorarbeiter im Baugewerbe ist er ein versierter Logistiker, der vorausschauend plant, Verantwortung übernimmt und Probleme lösungsorientiert angeht. Auf diesen Mann ist Verlass. Das wissen alle, die mit ihm zu tun haben. Der Chef, der ihm die Verantwortung für die Betonfundamente anvertraut. Seine Familie, die er - ganz im Gegensatz zu seinem eigenen Vater - nie im Stich gelassen hat. Und jene Frau, die nach einem One-Night-Stand in dieser Nacht ein Kind von ihm zur Welt bringen wird. Die Affäre war eine einmalige Angelegenheit, ein Ausrutscher in Ivans verbindlichem Dasein. Er ist fest entschlossen, dafür die Verantwortung zu übernehmen und fährt zur Geburt nach London, als die Wehen weit vor dem Termin einsetzen.

Auf der eineinhalbstündigen Autofahrt muss er nicht nur seiner Frau den Fehltritt beichten. Auch seine berufliche Existenz steht auf dem Spiel. Am Morgen werden sich über zweihundert Betonmisch-Fahrzeuge aus ganz England vor seiner Baustelle aufreihen. Das Fundament für ein dreißig Stockwerke hohes Gebäude soll gegossen werden, wofür er die alleinige Verantwortung trägt. Der Chef tobt, der hilflose Kollege, dem Locke eine telefonische Schritt-für-Schritt-Anleitung gibt, verzweifelt, die Anrufe aus dem Kreißsaal werden immer dringlicher, und die Ehefrau lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihm nicht vergeben wird.

Tom Hardy entwickelt eine enorme Präsenz als Alleinunterhalter in diesem motorisierten Kammerspiel. Aber auch wenn die anderen Figuren nur über den Bordlautsprecher zu hören sind, glaubt man sie spätestens nach dem zweiten Telefonat leibhaftig vor sich zu sehen. Das liegt an dem präzise gearbeiteten Drehbuch, das in den kurzen Dialogen den ganzen Kosmos der Beziehung aufleuchten lässt.

Mit großer narrativer Dynamik stellt Knight das männliche Selbstverständnis seines Protagonisten auf den Prüfstand, der sich ganz bewusst der Verantwortung gegenüber seinem Beruf, seiner Familie und seiner kurzzeitigen Geliebten stellt, aber hier als Multitasker und Problemlöser auf ergreifende Weise an seine Grenzen gerät.

Eine Schande, dass der Verleih No Turning Back während der WM ins Kino bringt, denn er ist spannender, als jedes Fußballfinale nur sein kann.

Martin Schwickert

Locke GB 2013 R&B: Steven Knight K: Haris Zambarloukos D: Tom Hardy 85 Min