OSAMA

Allein unter Männern

Überleben unter dem Taliban-Terror

Wir sind nicht politisch. Wir haben Hunger!", rufen die Demonstrantinnen, allesamt von Kopf bis Fuß in hellblaue Burkhas gehüllt. Es sind Witwen, die ihre Männer, Brüder und Söhne in dem 17 Jahre dauernden Bürgerkrieg Afghanistans verloren haben. Nun regieren die Taliban, und deren Auslegung des Koran verbietet Frauen ohne männliche Begleitung, das Haus zu verlassen. Die Witwen werden damit faktisch zum Hungertod verurteilt.
Siddiq Barmaks Osama ist der erste afghanische Film, der nach dem Sturz der Taliban gedreht wurde, und erzählt die Geschichte einer männerlosen Familie. "Warum hat Gott uns Frauen nur erschaffen?" klagt die Mutter (Zubaida Sahar). Sie ist Ärztin. Das Krankenhaus ist zerstört und bankrott. Die Milizen kontrollieren die Straßen und machen für Mutter, Tochter und Großmutter die eigenen vier Wände zum Gefängnis. Sie beschließen, dem 12jährigen Mädchen die Haare abzuschneiden und es, als Junge zu verkleidet, mit dem Namen Osama auf Arbeitssuche zu schicken. Aber bald schon wird Osama (Marina Golbahari) für die Koranschule rekrutiert, gerät bei den ausschließlich männlichen Mitschülern unter Druck und wird schließlich von den Mullahs entdeckt.
Auch wenn der Filmtitel ein wenig auf die pawlovschen Reflexe der westlichen Mediengesellschaft spekuliert, erzählt Siddiq Barmak seine Geschichte über das Schicksal der Frauen unter der Talibanherrschaft in überzeugender Schlichtheit. Denn Osama hat etwas, was den Fernsehberichten fehlt: Zeit.
In ruhigen, offensiv unspektakulären Szenenfolgen zeichnet Barmak ein präzises Bild von der enormen strukturellen Gewalt, mit der das Taliban-Regime die weibliche Bevölkerung zur Lethargie verurteilte. Nur selten schaut die Kamera in die Gesichter der bärtigen Milizionäre. Aber in den Augen der jungen Schauspielerin Marina Golbahari spiegelt sich die ganze Bedrohung, die von den selbsternannten Gottessoldaten ausgeht.
Barmaks Film macht die Unfassbarkeit der Repression für Außenstehende greifbar, indem er, statt auf Gräueltaten zu starren, etwas von der Atmosphäre vermittelt, die im Afghanistan der Taliban herrschte. In den Trümmerlandschaften Kabuls kommen sich die Überlebenden der Kriege wie lebendig Begrabene vor. Sogar die Farben haben das Land verlassen oder werden vom Staub der zerfallenen Häuser verschluckt.
Barmak, der nach der Machtergreifung der Taliban ins Exil ging und heute der Filmbeauftragte Afghanistans ist, hat ausschließlich mit Laiendarstellern vor Ort gearbeitet.
In ihren Gesichtern sind die Erlebnisse tief eingegraben, von denen Osama auf schlichte und berührende Art erzählt.

Martin Schwickert

R&B: Siddiq Barmak K: Ibrahim Ghafuri D: Marina Golbahari, Mohmmad Nadre Khwaja, Zubaida Sahar