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Liebe und Anarchie

Eine symbolhafte Geschichte aus der Endzeit des baltischen Adels

Das Haus ist auf Stelzen in die See hineingebaut, als wollte es mit purer Ignoranz der Gewalt der Elemente trotzen. Die Kamera schleicht durch die Korridore und Zimmer, findet immer wieder neue Blickwinkel, ohne dass man je eine wirkliche Vorstellung von Topografie des Gebäudes bekommt. Dann wieder eröffnet sich durch die Fenster die spektakuläre Aussicht über die baltische Küste. Das Rauschen des Meeres ist allgegenwärtig, genauso wie das Knarren des Holzes. Ein stimmungsvoller Ort für eine Geschichte, die sich ihrer eigenen Poesie anvertraut.

Mi reist Regisseur Chris Kraus) auf den biografischen Spuren der Berliner Autorin Oda Schaefer (1900-1988) zurück ins Estland des frühen 20.Jahrhunderts, wo eine deutschstämmige Adelsfamilie abseits der beginnenden Moderne das Gutshaus an der Küste bewohnt.

Der Arzt und verkannte Hirnforscher Ebbo von Siehring (Edgar Selge) widmet sich hier seinen Studien, in denen er von der Beschaffenheit des Gehirns direkt auf die Seele und das Sein der Menschen zu schließen versucht.

Die Regale in seinem Labor sind voll mit konservierten Organen und Körperteilen. "Wollen wir mal eine Katze aufschneiden?" sagt er zu seiner Tochter Oda in vertraulichem Ton. Das 14jährige Mädchen ist nach dem Tod der Mutter aus Berlin ins Baltikum zurückgekehrt und will sich nicht einfinden in den müßigen Alltag des deutschen Landadels.

Alles wird anders, als Oda in einem verlassenen Nebengebäude einen verletzten Mann findet. Der estnische Anarchist wurde von den russischen Soldaten angeschossen, die nun neben dem Gutshof ihre Zelte aufgeschlagen haben. Oda beschließt, den idealistischen Schriftsteller auf dem Dachboden des väterlichen Labors gesund zu pflegen und entdeckt in der platonisch-romantischen Beziehung zu dem Fremden die eigene Liebe zum Schreiben. Die wilden, aufkeimenden Gefühle des Mädchens stehen in wirkungsvollem Kontrast zum gesellschaftlichen Verfall ihrer Umgebung. Das ächzende Gebälk und die blätternde Farbe des Hauses verweisen auf den beginnenden Untergang des selbstgefälligen Landadeldaseins am Vorabend des Ersten Weltkrieges.

Sehr lange hat man keinen Film mehr gesehen, der die Atmosphäre einer Epoche derart kraftvoll illustriert. Kostüme, Kulissenbauten, Licht, Landschaft und Kameraführung summieren sich hier zu einer visuellen Sogwirkung, der man sich nur zu gerne ergibt. Hinzu kommt das hervorragende Ensemble, das aus den Figuren vielschichtige Charakterstudien entwickelt. Edgar Selge ist famos als "mad scientist", ebenso Richy Müller als verbitterter Gutsverwalter und Jeanette Hain als somnambule Hausherrin.

Aber das eigentliche Epizentrum vo ist die junge Paula Beer in der Rolle des impulsiven Mädchens, das seinen freien Geist gegen die verkrusteten Strukturen behauptet. Woher so eine junge, unerfahrene Schauspielerin diese stille Kraft und unerschütterliche Präsenz nimmt, ist vielleicht das spannendste Geheimnis dieses großartigen Films, der eine cineastische Leidenschaft in sich trägt, wie man sie im deutschen Kino nur selten erleben kann.

Martin Schwickert

D/A/EST 2009 R&B: Chris Kraus K: Daniela Knapp D: Paula Beer, Tambet Tuisk, Edgar Selge