101 REYKJAVIK

Freudianischer Albtraum

Ein Nesthocker wird von Mamas Geliebter vernascht

Vorbei die Zeit, in der die Jugend möglichst schnell von zu Hause auszog, um die Welt zu erobern und die Eltern das Fürchten zu lernen. Denn wenn man den Filmemachern glauben darf, scheint sich der Nesthocker als gesamteuropäisches Phänomen zunehmend zu etablieren. Gerade hat die etwas flach geratene Komödie Tanguy mit diesem Thema die französischen Kinocharts erobert, da greift der isländische Regisseur Baltasar Kormákur in seiner Heimatstadt Reykjavík einen ähnlich gelagerten Fall auf.
Der 28-jährige Hlynur (Hilmir Snaer Gudnason) wohnt noch bei der alleinerziehenden Mutter und hofft, seinen Arbeitslosenstatus direkt ins Rentnerdasein überführen zu können. Den heimatlichen Postzustellbezirk 101 Reykjavík hat Hlynur noch nie verlassen. Neben der Badewanne in der Küche ist der vollgestopfte Club um die Ecke zum zweiten zu Hause geworden. Die sexuellen Begegnungen, die sich hier mit dem weiblichen Geschlecht anbahnen, geht der ödipale Junggeselle gezielt leidenschaftslos an. Hlynurs Hängemattenphilosophie gerät durcheinander, als die spanische Flamenco-Lehrerin Lola (Victoria Abril) über Weihnachten in die Wohnung seiner Mutter einzieht. Lola kommt aus einem anderen Energieuniversum und stellt auch Hlynurs erotisches Trägheitsgelübde in Frage. Trotz ihrer lesbischen Präferenzen vernascht sie den Daueradoleszenten nach einer gemeinsam durchzechten Silvesternacht. Wenig später eröffnet die Mutter Hlynur ihr Coming Out. Sie liebt Lola und wird mit ihr zusammenleben. Außerdem ist Lola schwanger und die beiden werdenden Mütter freuen sich auf das Baby. Dass Hlynur möglicherweise der Vater des Kindes der Geliebten seiner Mutter ist, treibt den stressungewohnten Taugenichts in die aktive Verzweiflung.
Als freudianischen Alptraum bezeichnet Regisseur Baltasar Kormákur die schwarze Komödie 101 Reykjavík und lässt seine Ödipus-Karikatur durch das wilde Nachtleben der kleinen Hauptstadt treiben. Dabei ergeben die Trägheit des Helden und die über ihn hereinbrechenden Turbulenzen ein unerschöpfliches Reservoir an komödiantischen Möglichkeiten. Was als ironisches Porträt eines isländischen Müßiggängers beginnt, verwandelt sich schnell in eine schräge Farce, die wie die nordpolare Variante eines Almodóvar-Filmes daherkommt. Keineswegs zufällig hat Kormákur Victoria Abril unter Vertrag genommen, die schon mehrfach für den spanischen Regieexzentriker vor der Kamera stand. Dass am Schluss die Orientierungslosigkeit des Antihelden auch vom Regisseur Besitz ergreift, verzeiht man dem Film gerne. Unterlegt wird die äußerst unterhaltsame Angelegenheit mit einem schmissigen Soundtrack von Blur-Sänger Damon Albarn und Björk-Kollegen Einar Ørn, die den alten Lola-Song der Kings für jede Stimmungslage neu variieren.

Martin Schwickert

Island 2000 R&B: Baltasar Kormákur nach dem Roman von Hallgrimur Helgason K: Peter Steuger D: Victoria Abril, Hilmir Snaer Gudnason, Hanna Maria Karlsdóttir