REQUIEM

Von Dämonen getrieben
Hans Christian Schmid beschreibt einen Fall von Besessenheit als Akt der Rebellion

Am 1. Juli 1976 starb im fränkischen Klingenberg die 23jährige Anneliese Michel an den Folgen von Unterernährung und Entkräftung, nachdem zwei katholische Priester mit Billigung des Würzburger Bischofs das Exorzismusritual an ihr durchgeführt hatten. Die junge Katholikin litt jahrelang an Epilepsie und Wahnvorstellungen. Die beiden Priester und die Eltern wurden 1978 zu je sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Gerade erst hat sich Hollywood des Falles angenommen und kämpfte in Der Exorzismus der Emily Rose für das Existenzrecht der Dämonen und opferte Anneliese Michel alias Emily Rose effektreich auf dem Altar der Unterhaltung.
Wenn Hans-Christian Schmid (23, Crazy) nun den Fall Michel neu befragt, ist man vor digital animierten Horror- und Erlösungsszenarien sicher. Schmids Filmfiguren sind beschädigte Helden, die der Welt nicht gewachsen sind, durch deren dünne Haut die Einflüsse ihrer Umwelt ungefiltert einzudringen scheinen. Der paranoide Computerhacker in 23 und der sensible Halbseitenspastiker in Crazy sind Seelenverwandte von Michaela Klingler (Sandra Hüller), die in einem Kaff in Süddeutschland zu einer tiefgläubigen Katholikin erzogen wird und die keine Wallfahrt der Gemeinde auslässt.
Als Michaela einen Studienplatz in Tübingen bekommt, versucht die Mutter (Imogen Kogge) sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber mit Unterstützung ihres Vaters wagt Michaela den Schritt raus aus der Enge des Elternhauses hinein ins Studentenleben, das im Tübingen der 70er eher harmlos ausfällt.
Auf einer Party lernt sie Stefan (Nicholas Reinke) kennen, einer, der ihr Zeit lässt, sich ins Verliebtsein hineinzufinden und nachts beim Referatetippen hilft. Als Michaela Weihnachten nach Hause kommt, prallen die Welten aufeinander. Die Mutter versenkt die neugekauften Stiefel kurzerhand in der Mülltonne, weil sich ein solcher Aufzug nicht gehört.
Michaelas Gehversuche in die Selbstständigkeit werden immer wieder von epileptischen Anfällen begleitet, bei denen sie Stimmen zu hören glaubt. Während einer Wallfahrt bricht sie zusammen, versucht nach dem Rosenkranz zu greifen, kann sich dem Kreuz jedoch nicht nähern. Michaela ist überzeugt, dass sie von Dämonen besessen ist, sucht bei ihrem Gemeindepfarrer Hilfe, der sie an einen jüngeren Kollegen verweist, der Anzeichen für eine Besessenheit erkennt und beim Bischof die Durchführung eines Exorzismus beantragt.
Schmid sucht eine Erklärung für den wahnhaften Gemütszustand in der Summierung von Einflüssen. Die Epilepsie, die religiöse Erziehung, die scheinbar lieblose Mutter, die Überforderung durch das Studium, die Verwirrung der Gefühle durch die erste Liebe, das Drängen des jungen Priesters, der unbedingt einmal einen Exorzismus durchführen möchte - jeder dieser Faktoren für sich genommen reicht nicht aus, aber zusammen genommen bekommt man ein Gefühl dafür, wie sich Michaelas religiöse Wahnvorstellungen entwickeln.
Dass sich die Anfälle mit einer Kruzifix-Allergie verbinden, dass die dämonische Besessenheit die einzig legitime Rebellionsform gegen die Eltern im geschlossenen Glaubenssystem bleibt, ist verständlich. Trotzdem bleibt immer ein Rest in Michaelas Wesen, der sich den psychologischen Deutungsmustern entzieht.
Sandra Hüller spielt sich in dieser Rolle um Kopf und Kragen, lässt ihre Figur nie ins Opferschema abkippen, zeigt bei aller emotionalen Fragilität auch die charakterliche Stärken, findet Gesten für die Verzweiflung, ohne ins Mitleidspathos zu verfallen. Obwohl man weder auf der Bild- noch auf der Tonebene ihre Dämonen zu sehen bekommt, erkennt man in ihren Augen das Ausmaß der Angst, das die Wahnvorstellungen auslösen.
Die Stärke von Schmids Porträt einer vermeintlich Besessenen ist die Offenheit, mit der sich der Film einer solch stigmatisierten Figur nähert, ohne sie durch einfache Erklärungsmuster zu entmündigen. Hans-Christian Schmid beweist sich erneut als ein begabter Seelenerforscher und sensibler Humanist.

Martin Schwickert
D 2006. R: Hans-Christian Schmid. B: Bernd Lange. K: Bogumil Godfrejów. D: Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Anna Blomeier