SIMONS GEHEIMNIS

Das Kind des Mörders

Atom Egoyan erzählt wieder von Schuld und Verstrickung

Auf dem Computerbildschirm reden die Leute durcheinander. Dicht nebeneinander gerastert sieht man ihre Gesichter. Am Anfang ist es ein knappes Dutzend, später sind es an die hundert Menschen, die zu Hause vor der Webcam sitzen. Und jeder in diesem ständig wachsenden Chatroom scheint eine andere Meinung zu haben zu der Geschichte, die Simon ins Netz gestellt hat.

Er sei, so behauptet der 16jährige Schüler, der Sohn eines Terroristen, der seiner schwangeren Verlobten auf dem Flug nach Israel eine Bombe in die Reisetasche gesteckt habe, die jedoch vom Sicherheitsdienst rechtzeitig entdeckt worden sei. Die Geschichte ist wahr und eigentlich sollte Simon im Französisch-Unterricht den Artikel über den jordanischen Terroristen nur übersetzen. Aber er identifizierte sich so sehr mit dem ungeborenen Kind, dass er die Geschichte zu seiner eigenen machte. Seine Französisch-Lehrerin unterstützt ihn dabei und sieht Simons Vortrag als Glaubwürdigkeitsübung für den Theaterkurs.

Die Aneignung der fiktiven Vergangenheit ist für Simon sowohl Flucht als auch Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte. Vater und Mutter sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Simons Großvater behauptet, der Schwiegersohn habe seine Tochter mit Absicht in den Tod gefahren. "Dein Vater war ein Mörder" sagt er zu Simon, der nach dem Tod der Eltern bei seinem Onkel aufgewachsen ist und nun das verdrängte Ereignis neu zu erforschen versucht.

Die angeeignete Geschichte vom Vater als Terroristen scheint viel klarer und provokativer als die eigenen diffusen Familiengeheimnisse und sie verschafft Simon, nachdem er die Story ins Netz gestellt hat, eine enorme Aufmerksamkeit. Aber je mehr der Chatroom expandiert, desto unklarer wird für Simon im Meer der Meinungsäußerungen die eigene Identität.

Wie in den meisten seiner Filme legt der kanadische Regisseur Atom Egoyan auch hier mehrere Erzählschichten übereinander und verdreht sie mehrfach ineinander. Schon in Das süße Jenseits war der plötzliche Tod der Ausgangspunkt für eine verschlungene Suche nach der Wahrheit, die mehr über den Suchenden aufdeckt als über das Gesuchte. Der Umgang mit dem Verlust wird auch in Simons Geheimnis zur treibenden Kraft, dabei flechtet Egoyan in die persönliche Familienrecherche Diskurse über Terrorismus, religiöse Toleranz und die veränderten Kommunikationsformen im World Wide Web ein.

Die Beliebigkeit der Meinungsäußerungen, die im Chatroom über Simon hereinbrechen, ist im eigenen Leben keine große Hilfe. Vor dem Computerbildschirm innerhalb der eigenen vier Wände lassen sich die Probleme be- und zerreden, aber nicht lösen. Erst durch eine eigenständige Tat kann Simon sich von der Last der Vergangenheit befreien.

Martin Schwickert

Adoration Kanada 2008 R&B: Atom Egoyan K: Paul Sarossy D: Arsinée Khanjian, Scott Speedman, Devon Bostick