»THE SIXTH SENSE«

Kühler Schreck

Bruce Willis sieht die Welt der Toten

Als der Kinderpsychologe Malcolm Crowe (Bruce Willis) den Fall des paranoiden Jungen Cole Sear (Haley Joel Osment) übernimmt, kämpft er noch mit eigenen traumatischen Erinnerungen. Vor kaum einem Jahr hat ein ehemaliger Patient ihm eine Kugel in den Bauch gejagt und sich danach selbst erschossen.
Seitdem bewegt sich Crowe wie ein Fremder im eigenen Leben, und auch seine geliebte Frau zieht sich immer mehr von ihm zurück. Sein therapeutisches Versagen von damals versucht er nun an dem verstörten Cole wiedergutzumachen. Der verschlossene Junge wird von angstvollen Visionen geplagt und behauptet, die Toten sehen zu können, die sich für andere unsichtbar durch unsere Gegenwart bewegen. Als Cole von einer Geisterbegegnung mit zerrissenem Pullover und blauen Flecken zurückkehrt, beginnt auch Crowe zu verstehen, dass das Jenseits von der Realität nicht weit entfernt ist. Dass er jedoch selbst ein Grenzgänger zwischen den Welten ist, ahnt er noch nicht.
Das Blair Witch Project hat auf markterschütternde Weise gezeigt, dass man auch ohne krachende Spezialeffekte und kubikmeterweise verspritztes Blut ernstzunehmenden Horror produzieren kann. Auch M. Night Shyamalans The Sixth Sense , der sich in den USA 6 Wochen unangefochten auf Platz Eins der Kinocharts hielt, ist ein modernes Gruselmärchen, das auf die Methode des sparsamen Schreckens baut. Nicht der Schock ist das Ziel, sondern der eisige Schauer.
Der Horror wird hier nicht aus dunklen Halbwelten hervorgezaubert, sondern aus den mit klarem, kalten Licht ausgeleuchteten Szenen. Wenn die Geister Cole heimsuchen, sinkt die Raumtemperatur. Man sieht, wie der Atem kondensiert, und das reicht aus, um das Publikum in schauriges Frösteln zu versetzen. Erst gegen Ende werden in kurzen Schlaglichtern die Horrorvisionen des Jungen gezeigt. Geradezu atemberaubend ist die Vorstellung des 11-jährigen Haley Joel Osment. Mit beinahe beängstigender schauspielerischer Präsenz begibt er sich in die paranoide Vorstellungswelt seiner Figur. Sein eindringlicher Blick besteht vor jeder Großaufnahme, der junge Osment spielt einen Profi wie Bruce Willis einfach an die Wand. Dass Willis dies zulässt, ist wiederum eine nicht zu unterschätzende schauspielerische Leistung. Wie vor kurzem David Finchers Fight Club so ist auch Shyamalans Film mit einer überraschenden Schlusswendung ausgestattet, die eine vollkommen neue Lesart der Geschichte eröffnet. Auch das scheint heute zu einem modernen Kinoprodukt dazuzugehören.
Inhaltlich und formal ist The Sixth Sense perfekt durchgestylt, aber gerade diese Perfektion hinterlässt auch ein befremdendes Gefühl der Leere. Der sorgfältig konstruierte Horror bleibt ohne psychologischen Tiefgang, und die kühle Atmosphäre nimmt dem Film die notwendige Bodenhaftung.
Dem Schrecken fehlt das Herz - aber als Designer-Horror-Film passt er sicherlich ganz gut in unsere Zeit.

Martin Schwickert