SOMMER VORM BALKON

Gegen die Einsamkeit

Single-Beobachtungen aus Berlin


Das Interview zum Film

Wenn das Datum stimmt sagt", der Mann hinterm Schreibtisch, "dann ist Ihre Bewerbung drei Jahre alt". Die habe sie nur kopiert, weil sie sich ja so oft bewerbe, versucht Katrin ihren Fauxpas zu entkräften.
Die Peinlichkeit wird noch größer wenn die Kamera zurückfährt und den Blick freigibt. Leiter und Teilnehmer eines arbeitsamtlichen Bewerbungstrainings gehen mit Katrin (Inka Friedrich) hart ins Gericht: Die Kaffeepfütze in der Untertasse, die angespannte Haltung auf der Stuhlkante, das nervöse Auftreten - so bekommt man heute keinen Job mehr.
Nach nur wenigen Minuten hat Andreas Dresen eine seiner beiden Hauptfiguren scharf konturiert. Die andere heißt Nike (Nadja Uhl) und ist scheinbar das genaue Gegenteil ihrer arbeitslosen Nachbarin. Mit beiden Beinen steht die patente Altenpflegerin im Leben, hält für die senilen Klienten immer einen flotten Spruch bereit und hat sich in ihrer pastellfarbenen Wohnung gut eingerichtet.
Nike und die alleinerziehende Mutter Katrin haben eines gemeinsam: Keinen Mann. Abends sitzen sie auf dem Balkon, blicken auf das bunte Treiben in Berlin-Prenzlauer Berg und leeren plaudernd eine Flasche Wein nach der anderen.
Aber dann taucht Ronald (Andreas Schmidt) auf, der schmalbrüstige Lastkraftwagen-Fahrer, dessen überschwängliches Selbstbewusstsein auf Nike nicht ohne Wirkung bleibt. Der breitbeinige Macho bezieht immer öfter Quartier auf dem Balkon. Katrin zieht sich zurück in ihre Parterre-Wohnung, betrinkt sich jetzt allein, bis sie irgendwann zum Alkoholentzug ins Krankenhaus eingewiesen wird.
Wie schon in Halbe Treppe beweist Dresen sein Faible für Geschichten, die im Alltäglichen das Besondere entdecken. Dabei beschränkt er sich nicht auf ein Generationsporträt der Single-Frauen um die 30, sondern weitet den Blick zu einem altersübergreifenden Gesellschaftsskizze. Die Senioren, die Nike betreut, erzählen von ihren eigenen Lebens- und Liebeserfahrungen, und Katrins pubertierender Sohn quält sich mit einem rigiden Lauftraining ab, um seiner sportlichen Freundin zu imponieren.
Der Kampf gegen die Einsamkeit entwickelt aber auch seine komischen Momente. Andreas Schmidt verleiht der Figur des Obermachos Ronald einen wunderbar ironischen Charme, der nie in die billige Karikatur abrutscht.
Das Skript stammt von Wolfgang Kohlhaase, einem der renommiertesten Drehbuchautoren der DDR, der schon in DEFA-Klassikern wie Berlin - Ecke Schönhauser (1957) und Solo Sunny (1980) seinen genauen Blick für das soziale Milieu bewiesen hat. Kohlhaases genau kalkulierten Dialoge und Dresens spontaner und beweglicher Inszenierungsstil ergänzen sich zu einer leichten Sommerkomödie, die ganz nah am alltäglichen Leben gebaut ist und erst im Nachgeschmack ihre ganz eigene Melancholie entfaltet.
Ein kleiner, großartiger Film, der in einer ganz persönlichen Geschichte viel über den Seelenzustand in diesem Land erzählt.

Martin Schwickert

D 05 R: Andreas Dresen B: Wolfgang Kohlhaase K: Andreas Höfer D: Inka Fridrich, Nadja Uhl, Andreas Schmidt. Bundesstart: 5.1.06