Stoker

Der unheimliche Onkel Charlie

Park Chan-Wook kann auch dezent erschrecken, wie er in seinem US-Debüt beweist

Wir müssen keine Freunde sein" sagt India Stoker (Mia Wasikowska) zu ihrem Onkel Charlie (Matthew Goode) "Wir sind ja eine Familie". Nach dem Tod des Vaters, der an Indias 18. Geburtstag durch einen Autounfall ums Leben kam, taucht dessen deutlich jüngerer Bruder plötzlich auf. Weder India noch ihre Mutter Evie (Nicole Kidman) hatten den attraktiven Verwandten, der angibt durchs ferne Europa gereist zu sein, bisher kennengelernt. Jetzt nistet sich Onkel Charlie auf dem Familienanwesen ein, kocht für die beiden Hinterbliebenen, zieht schon bald das Begehren der weinseligen Witwe und die skeptische Faszination der Nichte auf sich.

India ist 18, aber wer in ihr ernstes Gesicht schaut, erkennt darin eine sehr viel ältere Seele und Abgründe, deren Ausmaße sie selbst noch nicht vermessen hat. Charlie, hinter dessen blendendem Aussehen sich ein undurchsichtiges Gemüt verbirgt, empfindet sie zunächst als Bedrohung. Gleichzeitig fühlt sie sich hingezogen zu dem fremden Verwandten, der ihr Familienleben infiltriert und tiefer, als sie es selbst vermag, in sie hineinzuschauen scheint. "Das ist gute Erde. Sie ist weich. Darin kann man gut graben", sagt er zu ihr mit der Schaufel in der Hand und man ahnt, dass er hier nicht vom Gärtnern spricht.

Mit Stoker legt Park Chan-Wook seinen ersten englischsprachigen Film vor. Der koreanische Filmemacher hatte mit Oldboy und Lady Vengeance seine Vorliebe für ungeschönte Gewaltdarstellungen und gleichzeitig einen enormen visuellen Stilwillen unter Beweis gestellt. Sein US-Debüt kommt nun deutlich weniger blutrünstig daher, aber auch hier lotet Park die dunklen Abgründe der menschlichen Seele gründlich aus.

Der Film erzählt einerseits eine klassische "Coming of Age"-Geschichte, in der die junge Protagonistin heranreift, indem sie das Böse in sich erkennen und akzeptieren lernt. Andererseits ist Stoker mit subtilen Horrorelementen als psychologischer Thriller aufgebaut, in dem düstere Familiengeheimnisse allmählich aufgedeckt werden. Darüber legt Park eine nur leicht asynchron angelegte Erzählstruktur, die mit kurzen Vorwegnahmen, Rückblenden und Parallelmontagen ein narratives Äquivalent zur grundlegenden Verunsicherung der jugendlichen Heldin findet.

Gleichzeitig arbeitet er in die brillant durchkomponierten Bilder immer wieder visuelle Verfremdungseffekte ein, mit denen etwa das durchgekämmte Haar Nicole Kidmans nahtlos in eine wogende Wiese verwandelt wird. Die ästhetischen Ambitionen verbinden sich organisch mit dem klug konstruierten Drehbuch, das die seelischen Schattenwelten der Figuren kompromisslos erforscht und in punkto "Suspense" mit den Hitchcock'schen Vorbildern mithalten kann.

Martin Schwickert

USA/GB 2013 R: Park Chan-wook B: Wentworth Miller K: Chung-hoon Chung D: Mia Wasikowska, Matthew Goode, Nicole Kidman