Die Summe meiner einzelnen Teile

Stiller Wahn

Die Geschichte eines Ausstiegs aus der Wirklichkeit

Martin hatte einmal einen gut bezahlten Job bei einer Bank. Aber dann hat er es irgendwann nicht mehr ausgehalten: Den Stress auf der Arbeit, die Trennung von seiner Freundin, die Erinnerung an eine alles andere als glückliche Kindheit.

Nach einem halben Jahr in der Psychiatrie wird er mit einem halben Dutzend verschiedener Medikamente wieder ins Leben zurückgeschickt. Das Amt hat ihm eine Wohnung im Plattenbau besorgt, die Begegnung mit der Ex, bei der seine Sachen im Keller lagern, ist unbeholfen, und der Chef von der Bank sagt ihm klipp und klar, dass sie sich einen labilen Charakter wie ihn in solch einer verantwortungsvollen Position nicht leisten können.

Dann geht alles ganz schnell. Martin schottet sich ab, ignoriert Mahnungen und Rechnungen und wird nach ein paar Monaten zwangsgeräumt. Vor dem Obdachlosenheim macht der schwer depressive Wohnungslose kehrt und quartiert sich in einem Abrisshaus ein. Dort trifft er auf den ukrainischen Jungen Victor, der sich ohne Eltern, Geld und Wohnung durch den harten Berliner Winter schlägt. Die beiden freunden sich an.

Wie schon in seinem Regiedebüt Das weiße Rauschen bewegt sich Hans Weingartner auch in seinem neuen Film auf dem schmalen Pfad zwischen Wahn und Wirklichkeit und beschäftigt sich mit denen, die aus der Mühle der Leistungsgesellschaft herausgefallen sind. Was zunächst wie eine Sozialstudie über Obdachlosigkeit daher kommt, entwickelt sich zu einem tiefgründigen Porträt eines Menschen, der mit seiner psychologischen Störung jenseits konventioneller, medikamentöser Therapieformen auszukommen versucht. Die Summe meiner einzelnen Teile ist ein Film, für den man ein wenig Geduld mit ins Kino bringen muss, der aber in der Mitte plötzlich an Tiefe gewinnt und den Zuschauer selbst am Grenzgang zwischen Wahn und Wirklichkeit teilhaben lässt.

Martin Schwickert

D 2011 R&B: Hans Weingartner K: Henner Besuch D: Peter Schneider, Timor Massold, Henrike von Kuick