Hüter der Erinnerung

Bad Memories

In Zukunft müssen wir alle Fahrrad fahren und uns andauernd entschuldigen. Allerdings nicht dafür.

Seit dem Erfolg von "The Hunger Games" durchforsten Hollywoodproduzenten den Bücherschrank nach massentauglichen ähnlichen Stoffen. Und meinen offenkundig, mit der geistesschlichten SF-Quadrologie von Lois Lowry fündig geworden zu sein. Deren erster Teil "The Giver", auf dem dieser Film beruht, ist in den USA immerhin Schullektüre.

In einer fernen Zukunft fahren wir alle nur noch Fahrrad, tragen Wallegewänder und sehen nur noch Schwarzweiß. So jedenfalls übersetzt der Film von Phillip Noyce Lois Lowrys Dystopie, die den jungen Leser vor allem darüber belehrt, dass Gleichheit nur unter Verlust aller Sinnlichkeit zu haben ist. Und dass es natürlich eine nicht näher definierte herrschende Klasse gibt, die nicht so gleich ist und streng darüber wacht, dass niemand Fragen stellt und alles so bleibt, wie es ist. Einer der netteren Hintergrundgags dieses ansonsten unermesslich öden Films ist denn auch die Besetzung der gestrengen Filmmutter mit Katie Holmes, die als Gattin des Ober-Scientologen Tom Cruise so ihre Erfahrungen mit solchen Systemen gemacht haben dürfte.

Man darf nicht lügen, man soll sich deutlich ausdrücken und soll sich ständig für seine Fehler entschuldigen. In dieser Welt der emotionslosen Fahrradfahrer (denn Gefühle sind schlecht für die Gleichheit; warum auch immer) wird der halbwüchsige Jonas vom Zentralkomitee dazu verdonnert, der neue "Hüter der Erinnerung" zu werden. Ein Job, den zur Zeit Jeff Bridges ausübt (der den Film co-produzierte) und der offenkundig immer wieder für Ärger sorgt.

Der "Hüter der Erinnerung" (im Original "The Giver") haust in einer großen Bibliothek am Rande der bekannten Welt und weiß alles über die Vergangenheit und über Gefühle. Wozu das gut sein soll, will die Story nicht mal ansatzweise erklären. Jonas' Ausbildung führt zum zu erwartenden Ärger und zur Rebellion, die damit beginnt, dass Jonas plötzlich Farben sehen kann, was vor allem eine enorme Erleichterung für den Zuschauer darstellt, der bis dahin auch nur in Schwarzweiß gucken durfte.

Am Ende der Rebellionsphase wird Jonas sich ein Baby unter den Arm klemmen (das in dieser herzlosen Gesellschaft einfach ermordet werden soll) und fliehen. Denn die Legende will, dass das Überschreiten der nebligen Landesgrenze durch nur eine Person dazu führt, dass alle ihre Erinnerungen wiedererlangen. Das ist als Annahme tatsächlich nicht idiotischer als der Rest der Story und mündet in einem Ende, das "Fortsetzung folgt!" quasi quer über die Leinwand geschrieben hat.

Neben dem zu erwartenden Overacting der Großdarsteller Meryl Streep (als Kommunen-Mutti) und Jeff Bridges erstaunt vor allem die Lieblosigkeit, mit der Ex-Actionregisseur Phillip Noyce den Stoff behandelt. Das erste Drittel des Films, in strengem Schwarzweiß gehalten, entwickelt ebensowenig eine eigene Ästhetik wie die spätere Flucht ins Farbige und Freie. Auch optisch kommt das nicht über Fernsehspielniveau hinaus. Denn die antiliberale Dystopie (Gleichheit führt zu Unterdrückung) bleibt in sich so unlogisch wie unbefriedigend. Wer baut eigentlich die Motorräder oder Drohnen, die den Ordnungshütern zur Verfügung stehen? Wer ernennt die politische Kaste? Und wo kommt in dieser ländlichen Fahrradidylle eigentlich der ganze Strom her, der dafür sorgt, dass Meryl Streep sich nach Belieben als Hologramm in jedes Schlafzimmer beamen kann?

Man kann Schwachsinn auch krachend unterhaltend inszenieren, die Hunger Games sind ein gutes Beispiel dafür. Hier aber wurde die Inszenierung offenkundig von der Ödnis der Vorlage eingeholt: diesen Unfug kann man nicht mal ordentlich bebildern.

Thomas Friedrich

The Giver. USA 2014 R: Phillip Noyce B: Michael Mitnick, Robert B. Weide K: Ross Emery D: Jeff Bridges, Meryl Streep, Brenton Thwaites, Alexander Skarsgard, Katie Holmes. 97 Min.