THUMBSUCKER

Welt am Daumen

Eine sanfte Vorstadtgroteske über Eltern und ihre pubertierenden Blagen

Wenn Justin (Lou Pucci) die eigene Familie, die Schule und überhaupt alles zuviel wird, macht er die Zimmertür hinter sich zu, legt sich aufs Bett, zieht die Beine an den Körper und lutscht am Daumen. Wenn man mit 17 noch am Daumen hängt, ist irgendetwas schief gelaufen. Unvollständige Loslösung von der Mutterbrust, hilflose Selbstvergewisserung - die Hobbypsychologen sind mit Erklärungen schnell bei der Hand.
Oder wie in diesem Fall der Kieferorthopäde, den Justin schon seit Jahren aufsucht, um sein deformiertes Gebiss richten zu lassen. Der hippie-eske Dentist (Keanu Reeves in seiner besten Rolle seit Jahren) hypnotisiert den Klienten mit dem Auftrag, sein inneres wildes Tier zu finden. Ohnehin wollen alle aus Justin einen anderen machen. Im Debattierclub der Schule soll er Positionen beziehen und verteidigen. Rebecca (Kelli Garner), in die er verliebt ist, fordert eine Ehrlichkeit ein, die er nicht aufbringen kann. Der Vater schreibt mit Kugelschreiber seinen Namen auf den Daumen, um dem postödipalen Treiben ein Ende zu bereiten. Und plötzlich scheint die Lösung ganz einfach: Die Schulpsychologin attestiert Justin ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.
Dagegen gibt es Medikamente und mit den Pillen verändert sich die Persönlichkeit des derangierten Teenagers über Nacht. Seinen Eltern ist die Entwicklung etwas unheimlich, aber eigentlich haben sie ihre eigenen Sorgen. Der Vater hat die Frustration über seine gescheiterte Football-Karriere bis heute nicht verwunden, die Mutter flüchtet sich in ihrer Fantasie in die Liason mit einem schmierigen Fernsehstar.
Mike Mills unaufgeregtes Regiedebüt ist kein typischer Coming-of-Age-Film, der sich den Jugendlichen mit Verständnis widmet und die Erwachsenen als Monster der eigenen Entfremdung zeichnet. Mills zeigt mit sanftem Humor, dass die Eltern sich genauso wenig einen Reim auf ihr Leben machen können wie ihre pubertierenden Kinder, von denen sie wiederum eine Klarheit einfordern, die sie selbst nie gefunden haben. Mills entpolarisiert die beiden Welten. Als der Sohn sich verabschiedet, um in New York ein neues Leben zu beginnen, sagt der Vater: "Dabei hatte ich mich gerade an dich gewöhnt", und das klingt aus seinem Mund fast schon wie ein Liebesgeständnis.

Martin Schwickert

USA 2005 R: Mike Mills B: Mike Mills nach einem Roman von Walter Kirn K: Joaquin Baca-Asay D: Lou Pucci, Tilda Swinton, Vince Vaughn