DIE GROSSE VERFÜHRUNG


Ausgerechnet Kanada

Ein Fischerdorf auf Ärztefang

Jean-Francois Pouliot hatte ein halbes Leben als Werbe-Clipper und ein Regal voller Preise hinter sich, als er beschloss, endlich mal etwas wesentliches zu machen. Und dann hängte er mit seinem Debüt Die große Verführung gleich den Herrn der Ringe ab. In Kanada.
Dort draussen, am windigen, kalten Arsch der Welt, verfällt ein winziges Fischerdorf vor sich hin. Früher stapften stolze Fischer noch vor Morgengrauen zu ihren Booten, heute stehen deprimierte Wracks bis Mittag Schlange für den Sozialhilfe-Scheck. Früher machten müde Männer nach 14 Stunden Knochenarbeit ihre Frauen glücklich, heute sind sie nur noch müde.
Dann spült der Zufall ihnen einen schnöseligen Jung-Arzt aus Montreal auf die Insel. Eigentlich muss der nur einen Monat Sozialstrafe abreissen (für ein Tütchen Koks, glückliches Kanada), aber wenn man ihn zum Bleiben überreden könnte? Dann würde auch eine Plastik-Firma ihre Niederlassung hier ansiedeln, dann hätten alle Arbeit, dann finge das Leben wieder an.
Halb englische Sozial-Komödie à la Local Hero, halb französisches Alltags-Zauber-Kino (einige Bilder sehen aus wie aus Amélie eingewandert) erzählt Die große Verführung davon, wie die knorrigen Dörfler ihr Elend zur Idylle umstylen. Man hört etwa heldenhaft Fusion-Jazz, weil der Doktor so was mag, man hängt ihm Fische an die Angel, damit er sich wohl fühlt, und man nimmt Tiefkühlfisch dafür, damit wir alle lachen.
Das klappt. Und ein paar Tränen der Rührung fließen dazu, wenn die Schlitzohren im Augenblick des Triumphs das Herz auf dem rechten Fleck entdecken und nicht mehr schummeln wollen. Sie wollten ihre Würde wieder gewinnen und hätten beinahe ihre Würde dafür verspielt. Hach, was für Momente.
Die große Verführung hat eine Menge solcher Momente, manche etwas dick aufgetragen, manche wunderbar fein am Rande, und einige, die ausserhalb Kanadas alberner aussehen, als sie gemeint sind. Wenn etwa die ungelenken Kerle, allesamt natürlich Eishockey-Fans, ein absurdes Kricket-Match veranstalten, weil der junge Doktor diesen Sport so liebt. Am Ende, als alles verloren scheint, fragt der Arzt seinen väterlichen Betreuer, den Kopf der Liebenswert-Verschwörung "Würdest du für mich Kricket lernen?".
In Hollywood wäre die Antwort wohl "ja" und der Kitsch wäre im Ventilator. In Kanada ist man echter, sagt "nein" und grinst sich respektvoll unter Männern an. Und weil die stolzen Ex-Arbeitslosen nun in einem Werk für Tupper-Dosen ihren Lebensunterhalt verdienen, sind sie auch wieder rechtschaffen müde genug, um ihre Frauen glücklich zu machen. Das ist naiv, na klar, aber es ist ein wunderbares Schlussbild.

WING
Seducting Doctor Lewis. CAN 2003, R: Jean-Francois Pouliot, B: Ken Scott, D: Raymond Bouchard, David Boutin, Rita Lafontaine, Lucie Laurier