VERTRAUTE FREMDE

Einmal zurück

Eine Zeitreise in die eigene Jugend

Wie sähe das aus, wenn man die Möglichkeit hätte, mit der Erfahrung des Erwachsenendaseins in die eigene Kindheit und Jugend zurückzureisen? Diese Versuchsanordnung hat der japanische Comic-Zeichner Jiro Taniguchi in seinem graphischen Roman Vertraute Fremde durchgespielt, den der belgische Regisseur Sam Garbarski (Irina Palm) nun auf poesievolle Weise für das Kino adaptiert hat.

Als der Comic-Zeichner Thomas (Pascal Gréggory) auf einer Geschäftsreise in den falschen Zug steigt, landet er auf einem kleinen verlassenen Bahnhof in den französischen Bergen. Erstaunt stellt er fest, dass er sich am Ort seiner Kindheit befindet. Mit seinem Trolley schlendert er durch die Straßen. Nur wenige erkennen den Rückkehrer. Als er auf dem Friedhof am Grab seiner Mutter ohnmächtig wird, wacht Thomas im Körper seiner Jugend wieder auf.

Als 14jähriger Teenager kehrt er in seine Kindheit der frühen sechziger Jahre zurück. Es ist eine wohltuende Irritation die Vergangenheit noch einmal zu erleben, durch die Straßen des Dorfes zu streifen, mit den alten Freunden erneut die Schulbank zu drücken, das Gefühl des ersten Verliebtseins zu durchleben. Mit der Erfahrung des Erwachsenen erlebt Thomas die eigene Jugend intensiver und bewusster, fällt aber auch durch die alte Seele, die in dem jungen Körper wohnt, oftmals aus der Rolle des sorglosen Teenagers.

Das betrifft vor allem den Umgang mit seinen Eltern. Thomas weiß, dass der Vater die Familie ohne ein Wort der Erklärung verlassen und die Mutter an dem schmerzhaften Verlust zerbrechen wird. Das Verschwinden des Vaters war für Thomas eine tiefe Verunsicherung und hat sein Leben als Erwachsener nachhaltig geprägt. Nun sieht er die Chance, das traumatische Ereignis bei seinem Besuch in der Vergangenheit zu verhindern. Er versucht, eine Nähe zum Vater herzustellen, die er sein Leben lang vermisst hat, ihn zum Reden zu bringen, seine Motive für die Flucht aus der Familie zu ergründen und gleichzeitig die Mutter auf den möglichen Verlust vorzubereiten.

Eigentlich ist es eine tiefenpsychologische Reise, von der Sam Garbarski in Vertraute Fremde erzählt. Aber die Rückkehr in die Vergangenheit wird hier nicht zum schwermütigen Psychotrip, sondern mit melancholischer Leichtigkeit in Szene gesetzt. Wenn Thomas seine ersten Schritte im neu erworbenen Körper seiner Jugend unternimmt, spürt man förmlich wie die Last des Erwachsenendaseins von seinen Schultern abfällt. Vor dem Hintergrund der eigenen verlustreichen Lebenserfahrung begegnet der Zeitreisende den Eltern mit fürsorglicher Zärtlichkeit. Aber Vertraute Fremde zeigt auch die Kommunikationsunfähigkeit dieser Elterngeneration, die in den Härten des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen ist und für die die seelischen und gesellschaftlichen Befreiungsschläge der sechziger Jahre zu spät kamen. Wie schon in seinem autobiografisch motivierten Film Der Tango der Rashevskis zeigt Garbarski, wie sich in einer kleinen, intimen Geschichte die Narben der Zeitgeschichte abzeichnen.

Martin Schwickert

Quartier Lointain B/F/Lux/D 2010 R: Sam Garbarski B: Sam Garbarski, Jérome Tonnerre, Philippe Blasband nach der Comic-Vorlage von Jiro Taniguchi D: Gréggory, Alexandra Maria Lara, Jonathan Zaccaï