DER VORLESER

Späte Sühne

Ein Literaturverfilmung mit zu viel Musik

Es war eine gewagte Mischung, die Bernhard Schlink mit Der Vorleser einrührte, auch wenn der Roman gänzlich ohne verwegene Gesten der Provokation daher kam. Das sexuelle Erwachen eines jungen Mannes direkt mit dem Holocaust und der deutschen Vergangenheitsbewältigung zu verzahnen - das hätte auch schief gehen können. Aber das Buch wurde zum Bestseller, weltweit in vierzig Sprachen übersetzt, und landete als erstes deutschsprachiges Buch auf Platz 1 der Liste der New York Times .

Schlinks differenzierter Blick durch die Generationen hindurch auf die Schuld- und Verdrängungsmechanismen im Nachkriegsdeutschland faszinierte die Leserschaft weit über die Landesgrenzen hinaus. Bereits 1996 hatte der Independentfilm-Mogul Harvey Weinstein für Miramax die Filmrechte erworben, und Anthony Minghella ( Der englische Patient ) sollte Regie führen. Das Projekt wurde immer wieder verschoben und landete nun schließlich in den Händen von Stephen Daldry ( The Hours ), der sich sehr nah an der literarischen Vorlage entlang bewegt.

David Kross ( Krabat ) spielt Michael Berg, der sich im Jahre 1958 heillos in die um zwanzig Jahre ältere Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz (Kate Winslet) verliebt. Geradezu süchtig nach den ersten sexuellen Erfahrungen stürzt der Junge nach Schulschluss zur Einraum-Wohnung seiner Geliebten statt mit den Freunden im Freibad abzuhängen. Geredet wird wenig. Erst nach ein paar Tagen werden die Namen ausgetauscht. Stattdessen soll das "Jungchen", wie Hanna den 15jährigen Gymnasiasten nur nennt, vorlesen. Hannas literarischer Hunger ist unersättlich. Im sonnigen Licht jugendlicher Verklärung leuchtet Daldry diese Szenen der Verführung aus. Dabei bleibt, trotz aller jugendlichen Leidenschaft, die Scheu sichtbar, mit der sich die beiden über ihre Altersdistanz hinweg begegnen.

Plötzlich ist Hanna weg, und erst lange Jahre später trifft der Jura-Student Michael seine erste Liebe wieder. Im Gerichtssaal, wo Hanna angeklagt ist, als KZ-Aufseherin am Tod von über 300 Gefangenen direkt beteiligt gewesen zu sein. Langsam erklären sich Hannas Verschwiegenheit, ihre harschen Ausbrüche.

Kate Winslet spielt die Hanna großartig als grundlegend verstörte Persönlichkeit, der man die zärtliche Geliebte genauso abnimmt wie die herzlose KZ-Wächterin. Beide Facetten der Figur sind bei Winslet nur einen Lidschlag voneinander entfernt. Einzig der omnipräsente musikalische Klangteppich, der wie schon in The Hours zu jeder Sekunde suggestiv die zu fühlende Emotion vorgibt, nervt zutiefst.

Martin Schwickert

USA 2008 R: Stephen Daldry B: David Hare nach einem Roman von Bernhard Schlink K: Chris Menges, Roger Deakins D: Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kross