Das Mädchen Wadjda

Immobile Gesellschaft

Der Wunsch nach einem Fahrrad ist in Saudi-Arabien brisant

Wenn die Bauarbeiter auf dem Dach des Nachbarhauses erscheinen, müssen die Mädchen sofort den Schulhof räumen. Denn der Anblick ihrer unverschleierten Gesichter stellt einen Affront dar für die Männer oben auf dem Dach, die aus der Ferne nur schemenhaft zu erkennen sind.

Was für westliche Zuschauer vollkommen absurd wirkt, gehört in der saudi-arabischen Gesellschaft zur Normalität. Der Alltag in dem Land, in dem mit dem Wahabismus eine besonders strenge Form des Islam zur Staatsreligion erhoben wurde, ist für Frauen kompliziert. Sie dürfen weder Autofahren noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Um zur Arbeit zu kommen, müssen sie einen Fahrer engagieren, von dessen Zuverlässigkeit das berufliche und private Wohlergehen abhängt.

Nicht nur die motorisierte Mobilität bleibt eingeschränkt, selbst das Fahrradfahren ist Frauen untersagt. In Das Mädchen Wadjda erzählt die saudische Filmemacherin Haifaa al- Mansour die Geschichte eines Mädchens, das sich nichts sehnlicher wünscht als ein Fahrrad. Die Mutter winkt müde ab. Was für eine Idee! Viel zu teuer und sie wisse doch ganz genau, dass Mädchen nicht Rad fahren. Außerdem hat die Mutter andere Sorgen. Ihr Ehemann schaut nur noch unregelmäßig vorbei und es besteht Grund zur Sorge, dass er sich eine Zweitfrau nimmt, die ihm endlich einen Stammhalter gebären soll.

Aber Wadjda ist ein Mädchen, das nicht so schnell aufgibt. Um das Geld für das Fahrrad zusammenzubekommen, das beim Kaufmann um die Ecke in all seiner bunten Schönheit erstrahlt, verkauft sie selbstgemachte Armbänder und übernimmt Botendienste zwischen heimlich Verliebten. Als das nicht reicht, beteiligt sie sich schließlich an einem Koranwettbewerb, lernt die Suren auswendig und versucht, die Jury mit ihrer schönen Stimme zu überzeugen.

Haifaa al-Mansour ist die erste und bisher einzige Filmregisseurin Saudi-Arabiens - ein Land, in dem es keine Kinos gibt und Filmemachen für eine Frau noch abwegiger ist als Fahrradfahren. Mit einer deutschen Produktionsfirma hat Al Mansour den Film auf die Beine gestellt und auf dem Papier sieht das Projekt aus wie eine typische Koproduktion, die das Schicksal der Frauen im Islam anprangert und an die feministischen Fürsorgeinstinkte des westlichen Publikums appelliert. Aber die Regisseurin hält sich von allen mitleidigen wie kämpferischen Posen fern und schert sich wenig um westliche Vorurteilsstrukturen und politisch korrektes Multikulti-Kino. Das Mädchen Wadjda, der in Saudi-Arabien gedreht wurde, erzählt seine emanzipatorische Geschichte ganz nah am Alltäglichen. Die Sehnsucht des jungen Mädchens nach einem Fahrrad ist eng verbunden mit zahlreichen interessanten Details aus der gesellschaftlichen Normalität. Al-Mansour schaut mit zärtlichem Blick auf ihre junge Heldin, die am Ende glücklich und außer Atem mit ihrem Fahrrad an der Kreuzung zu einer großen Straße steht und ihr eigenes Stück Zukunft in den Händen hält.

Martin Schwickert

Wadjda Saud.-Arab 2012 R & B: Haifaa al-Mansour K: Lutz Reitemeier D: Reem Abdullah, Waad Mohammed, Abdullrahman al-Gohani, Ahd