DEAR WENDY

Unter Waffen
Eine Parabel über die Macht der Pistolen

Die fatalen Folgen der amerikanischen Waffengesetzgebung hat Michael Moore vor drei Jahren in Bowling for Columbine aufgezeigt. Moore zeichnete das Bild einer Gesellschaft, die sich in Angstfantasien hineinsteigert und den permanenten Selbstverteidigungszustand ausgerufen hat. Was die Menschen in diesem Zustand alles anrichten, konnte man gerade in New Orleans feststellen.
In Dear Wendy untersucht Vinterberg (Das Fest) den Waffenfetischismus der Amerikaner nun von einer anderen Seite. Nicht "Was macht der Mensch mit einer Knarre?", sondern "Was macht die Knarre aus einem Menschen?" ist die Frage. Ort der Handlung ist ein amerikanisches Bergarbeiterstädtchen, dem man seine dänische Studiokulissenherkunft absichtsvoll ansieht. Hier wohnt Dick (Jamie Bell aus Billy Elliot), ein blässlicher Außenseiterjunge. Wie alle Männer in Estherslope soll auch er unter Tage sein Geld verdienen. Aber Dick verweigert sich der proletarischen Machokultur und fängt an im örtlichen Krämerladen zu arbeiten. Als er eine Spielzeugpistole kauft, die sich als funktionsfähige Waffe erweist, verändert sich sein Leben grundlegend. Mit seinem Arbeitskollegen Stevie (Mark Webber) gründet er den Club der Dandies, die sich als Pazifisten verstehen und trotzdem in einer stillgelegten Mine ihrem Waffenfetischismus frönen. Dick und Stevie scharen die Loser der Stadt um sich: Susan (Allison Pill) die verhuschte Spielwarenverkäuferin, Huey (Chris Owen), der sich nur auf Krücken fortbewegen kann und dessen Bruder Freddie, der in der Schule ständig verprügelt wird. Ihren Waffen geben sie klangvolle Kosenamen: Bad Steel, Lee & Grant, Lyndon oder Wendy. Das libidinöse Verhältnis zu ihren Pistolen gibt den Jugendlichen ein neues Selbstbewusstsein, auch wenn sie ihre Partner nie in der Öffentlichkeit zeigen. Aber als Sebastian dazustößt, der wegen Mordes auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, verschieben sich die Gewichte, drängen die Waffen zu ihrer eigentlichen Bestimmung.
Dear Wendy erhebt nicht den Anspruch, ein realistisches Bild der amerikanischen Jugendwaffenkultur zu zeichnen. Der Film, zu dem Lars von Trier das Drehbuch schrieb, will als politische Allegorie und psychologische Studie verstanden werden und bedient sich mit seiner Western-Ästhetik großzügig im Mythenfundus der amerikanischen Filmgeschichte. Vinterberg hat seinen Film als verschrobenes Lehrstück angelegt, das genügend künstlerischen Raum zum freien Denken lässt und sein Credo trotzdem unmissverständlich formuliert: die tödliche Macht der Waffen ist immer stärker als die Menschen, die sie zu beherrschen vorgeben. Dear Wendy funktioniert als bewaffnete Reinkarnation von Der Club der toten Dichter genauso wie als Parabel auf eine politische Kultur, die vorgibt, mit Waffengewalt Frieden stiften zu wollen und sich dabei in unübersichtlichen Kriegsgefechten verfängt.

Martin Schwickert
Dear Wendy DK/GB/F/D 2005 R: Thomas Vinterberg B: Lars von Trier K: Anthony Dod Mantle D: Jamie Bell, Bill Pullman, Michael Angarano