We Need to Talk About Kevin

Mutters Sohn

Warum läuft Kevin Amok? Ein differenzierendes Such-Bild über Schuld und Verantwortung

Früher war Eva Khatchadourian (Tilda Swinton) eine gefeierte Abenteurerin und Bestsellerautorin. Sie lebte mit ihrem Mann Franklin (John C. Reilly), Sohn Kevin und ihrer kleinen Tochter Celia in einem mondänen Anwesen. Jetzt haust sie in einem morschen Häuschen, jobbt in einem Reisebüro und wird von ihren Mitmenschen terrorisiert. Man verübt Farbattacken auf ihre Bleibe, eine Frau schlägt sie in aller Öffentlichkeit, und Einkaufen im Supermarkt ist schwierig. Nur ihre Träume von längst vergangenen Reisen verschaffen Eva kurze Momente des Glücks.

Der Grund dafür ist ihr Sohn Kevin, der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt. Kurz vor seinem 16. Geburtstag verübte er an seiner Schule einen Amoklauf und vernichtete dabei auch seine Familie. Seitdem quält sich Eva mit bohrenden Fragen. Hat sie Kevin nicht genug geliebt? Wie wurde er zum Psychopathen? Hätte sie Zeichen erkennen und ihn aufhalten können?

Von Anfang an ist die Beziehung zwischen Eva und Kevin angespannt. Als Baby schreit er dauernd. Später spricht er lange Zeit nicht mit Eva, ignoriert sie regelrecht. Als Junge beginnt Kevin, kleine, harmlose Sabotageakte durchzuführen. Franklin erklärt seiner Frau, dass Jungs eben "so" seien. Auch als Kevin das Büro von Eva, dessen Wände sie mit Erinnerungen an ihre Reisen dekoriert hat, mit Farbe verwüstet, entschuldigt Franklin seinen Sohn. Als Teenager blockt Kevin Evas Versuche ab, ihre kühle Beziehung zu verbessern. Die kleine Celia wird ebenfalls Ziel von Kevins oft bösartigen Aktionen. Seinem Vater gegenüber gibt er sich stets offen und aufgeweckt.

Aber man sieht auch, dass Eva überfordert ist und ihr altes Leben vermisst. Bei ihrer ersten Schwangerschaft mustert sie skeptisch die dicken Bäuche der Mitglieder ihrer Schwangerschaftsgruppe. Später treibt sie Kevins stetes Geschrei einmal dazu, zu einer Baustelle zu gehen, damit der Lärm das Babygeschrei überdeckt. Und Eva bricht ihm einmal, durch seinen Trotz zur Weißglut getrieben, den Arm.

Eine Stärke des Films liegt darin, dass er nicht mit simplen Erklärungen zur Stelle ist. Liegt in Evas Ambivalenz gegenüber ihrer Mutterschaft die Erklärung für Kevins Verhalten? Oder sind angeborene Eigenschaften letztlich doch stärker als Erziehung? Bis zum unerbittlichen Ende wird das nicht eindeutig beantwortet.

Trotz dieser Offenheit packt einen die komplexen Mischung aus Drama und Thriller, was zu einem guten Teil an Ramsays fähiger Regie liegt, aber auch an Seamus McGarveys Kameraarbeit, denn ihm gelingen oft intensive Bilder. Ebenso tragen die Darsteller viel zum Gelingen bei. John C. Reilly und Ezra Miller als Kevin liefern tadellose Leistungen ab. Aber letztlich trägt die wieder einmal großartige Tilda Swinton den Film.

Olaf Kieser

UK/USA 2011 R: Lynne Ramsay B: Lynne Ramsay, Rory Kinnear K: Seamus McGarvey D: Tilda Swinton, John C. Reilly, Jasper Newell, Ezra Miller