Westen

Krieg der Systeme

Ein beklemmender Film über innerdeutsche Exilanten

Bei der Ankunft bekommt Nelly (Jördis Triebel) ihr Begrüßungsgeld und eine Registrierkarte in die Hand gedrückt. Zwölf Stempel muss sie auf der Karte sammeln, bis sie offiziell zur Bundesbürgerin erklärt wird. Das bedeutet: Medizinische Untersuchungen, Amtsgespräche und vor allem immer wieder Verhöre durch die alliierten Geheimdienste.

Zwei Jahre mussten Nelly und ihr Sohn Alexej in der DDR auf die Bewilligung ihres Ausreiseantrages warten und all die staatlichen Schikanen über sich ergehen lassen. Nun finden sie sich Ende der siebziger Jahre im Westberliner Aufnahmelager Marienfelde in einem neuen Gefängnis wieder, in dem man ihnen mit noch mehr Misstrauen als im Arbeiter- und Bauernstaat begegnet.

Den goldenen Westen hat sich Nelly anders vorgestellt. Dabei hat die promovierte Chemikerin weder aus politischen noch aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Nach dem Unfalltod ihres russischen Lebensgefährten und den nachfolgenden Befragungen durch die Staatssicherheit wollte sie einfach alles hinter sich lassen und neu anfangen.

Aber die alliierten Verhörspezialisten haben schon eine Akte über sie auf dem Tisch und stellen Fragen nach ihrem Mann, der möglicherweise gar nicht gestorben ist. Das lähmende Misstrauen des Kalten Krieges hängt wie eine schwere Wolke über dem Lager, das von einem Zaun umgeben ist - in einer eingemauerten Stadt, die wiederum wie eine Insel inmitten eines abgeschotteten Staates liegt.

In Westen erinnert Christian Schwochow (Der Turm), der hier den Roman Lagerfeuer von Julia Franck adaptiert, an eine beklemmende Ära, in der sich zwei feindlich gesonnene Systeme drohend gegenüber standen und sich in mancherlei Hinsicht zunehmend ähnlicher wurden. Westen spielt im Transitraum des Kalten Krieges, in dem die Flüchtlinge und Ausreisenden zum Spielball im Weltmachtpoker wurden. Mit einer enormen inneren Kraft spielt die wunderbare Jördis Triebel die Frau, die sich zwischen den Fronten mit ihrer individuellen Lebensgeschichte zu behaupten versucht. Sie ist das Ereignis dieses Films, der die beklemmende Atmosphäre jener Jahre sehr genau einfängt und zeigt, wieviel Mut und Kraft es erfordert, in einem Klima allumfassenden Misstrauens neues Vertrauen zu fassen. Weit über seinen historischen Kontext hinaus vermittelt der Film ein Gefühl dafür, was Exil bedeutet und welche Verunsicherungen und Demütigungen mit einem Neuanfang in einem fremden Land verbunden sind.

Martin Schwickert

D 2013 R: Christian Schwochow B: Heide Schwochow; n. d. Roman "Lagerfeuer" von Julia Franck K: Frank Lamm D: Jördis Triebel, Tristan Göbel, Jacky Ido 98 Min.