WIR


Short Cuts

Kleine Begebenheiten aus Berlin

Nach all den Orakeln, Elben, Samurais, und Weltenrettern ist es ungeheuer wohltuend einen Film wie Wir anzuschauen. Ein Film über echte Menschen, die aus ihrer eigenen Welt erzählen. Der Potsdamer Filmhochschuldabsolvent Martin Gypkens hat einen Film über sich und seinesgleichen gedreht: Studies Anfang bis Mitte Zwanzig, die zwischen Uni, Party und Beziehungsstress durch den Berliner Großstadtdschungel treiben, die sich verlieren und finden, die immer in Bewegung sind und trotzdem auf der Stelle treten.
So wie Florian (Oliver Bokern), der gelernte Schreiner, der gerade nach Berlin gekommen ist, um Architektur zu studieren, haben sie alle mal am Bahnhof gestanden: einen Rucksack auf dem Rücken und eine Telefonnummer in der Hand, von einem Freund, bei dem sie erst einmal unterkommen können. Den erkennt Florian kaum wieder, denn in den drei Jahren Berlin hat Pit (Jannek Petri) viel Zeit im Fitness-Studio und in der schwulen Subkultur verbracht. Nach ein paar Fetengesprächen hat der Neuankömmling ein WG-Zimmer und sein Herz hoffnungslos an die schöne Petronella (Rike Schmid) verloren. Die schweißt Möbel zusammen und ist mit dem Filmstudenten Till (Sebastian Reiß) so gut wie verheiratet. Auf die langjährige Beziehung blicken alle in der Clique mit Respekt, denn so viel Kontinuität ist für die meisten unvorstellbar. Anke (Lilia Lehner) hat gerade von Soziologie zu Psychologie gewechselt und denkt darüber nach, etwas handfesteres - wie zum Beispiel Theaterwissenschaft - zu studieren. Ihre Mitbewohnerin Judith (Karina Plachetka) ringt täglich neu um die unstete Beziehung zu ihrem bisexuellen Freund Carsten (Knut Berger). Dessen Schwester Käthe (Brigitte Hobmeier) ist nicht ganz von dieser Welt und schickt ihre Liebhaber nach einmaligem Gebrauch nach Hause.
Zehn Figuren schiebt Martin Gypkens souverän durch seinen Film. Um die Handlung des Beziehungs- und Selbstfindungsreigens wiederzugeben, müsste man eine Skizze mit Namen, Pfeilen und Verbindungslinien anlegen, die wie ein Schnittmusterbogen aussähe.
Für einen Debüt pflegt Wir - ein Ensemblefilm mit hervorragenden schauspielerischen Einzelleistungen - einen bemerkenswert differenzierten Umgang mit seinen Figuren. Schnell glaubt man sie zu kennen: die Partynudel, das Landei, die Vernünftige, den coolen Schönling, die Problemtante und den Außenseiter. Aber dann entdeckt der Film sie wieder neu, findet andere Facetten, schaut hinter die Fassade und schafft Momente von emotionaler Wahrhaftigkeit fernab aller Partyjugendstereotypen.
Ganz nebenbei ist Wir einer der besten Berlin-Filme der letzten Jahre, weil er nicht krampfhaft nach hippen Locations sucht, sondern zeigt wie sich Angebot und Ansprüche der Großstadt im Leben der Noch-Nicht-Erwachsenen widerspiegelt.

Martin Schwickert
D 2003 R&B: Martin Gypkens K: Eeva Fleig D: Knut Berger, Oliver Bokern, Lilia Lehner