WOLKE NEUN

Altes Leiden

Man kann auch im Alter vor Liebe verrückt werden

Es klingelt. Die Änderungsschneiderin steht vor der Tür. Sie sei gerade in der Gegend gewesen, da wollte sie die gekürzte Hose gleich selbst vorbeibringen. Der nur wenig verdutzte Kunde lässt sie herein, räumt verlegen ein paar Sachen aus dem Wege und probiert die Hose an. Während die Schneiderin die Passform der Beinkleider überprüft, erhitzen sich merklich die Gemüter. Aus einer flüchtigen Berührung wird ein herzhaftes Zupacken. Lustvoll fallen die Frau und der Mann, die bisher kaum ein Wort miteinander gewechselt haben, übereinander her.

Eine solche Szene könnte man sich gut in einem französischen Film vorstellen. Ein Mann in den besten Jahren. Das zarte Gesicht der unwesentlich jüngeren Frau. Nahaufnahmen von der nackten Haut makelloser Körper. Lackierte Fingernägel, die sich leidenschaftlich im Betttuch verkrallen.

Aber wir sind hier nicht in einem Pariser Maisonette-Appartement, sondern in einer schmucklosen Zwei-Raum-Wohnung in Berlin-Adlershof. Inge (Ursula Werner) ist Ende sechzig und ihr Lover Karl (Horst Westphal) geht auf die Achtzig zu. Ihre Körper sind vom Leben gezeichnet. Faltige Haut, welkes Fleisch, Fettpolster, Altersflecken - solche Anblicke glaubt das Kino uns normalerweise ersparen zu müssen.

Andreas Dresen stellt diese Bilder an den Anfang seines neuen Films. Eine verheiratete Frau verliebt sich in einen Witwer und trennt sich nach über dreißig Ehejahren von ihrem Mann. Dabei ist Inge mit ihrem Werner (Horst Rehberg) gar nicht mal so unglücklich. Vieles ist Routine, aus der heraus jedoch auch ein hohes Maß an Übereinstimmung durchschimmert. Ja, und auch diese beiden Alten haben Sex miteinander und auch das bekommen wir zu sehen. Dresen verzichtet dankenswerterweise darauf die langjährige Beziehung zu denunzieren, um Ilses Affäre zu rechtfertigen. Genau wie viele andere, jüngere Kinoheldinnen verliebt sich Ilse ohne Sinn und Verstand. Nur dass die Konsequenzen einer Trennung, wenn man nicht mehr allzu viele Jahre zu leben hat, andere sind.

Und so wie Ilse bei den gemeinsamen Ausflügen mit Horst auf dem Fahrrad in der freien Natur aufblüht, so wird Werner zur tragischen Figur, der in seiner Eifersucht zum gekränkten Patriarchen mutiert und vom eigenen Stolz aufgezehrt wird.

Wenn die beiden nach einem gemeinsam verlebten Nachmittag mit den Enkeln im Schrebergarten den Wiesenweg entlang gehen, sich daran erinnern, wie die eigene Tochter noch ein Kind war, um sich dann an der Straße zu verabschieden und in verschiedene Richtungen zu gehen, dann glaubt man das Knackgeräusch der gebrochenen Herzen zu hören.

Wie schon in Halbe Treppe hat Dresen mit einem kleinen Team gearbeitet und den Schauspielern Raum für Improvisationen gelassen. Ungeheuer dicht hat er diese schlichte Liebesgeschichte gewebt, mit reduzierten Dialogen, einer fühlbaren körperlichen Nähe zu den Figuren und einer fließenden, eliptischen Erzählweise.

Martin Schwickert

D 2008 R: Andreas Dresen K: Michael Hammon D: Ursula Werner, Horst Rehberg, Horst Westphal