MEIN ERSTES WUNDER

Augen zu

Die Unschuld der Liebe

Dole ist elf und ein helles Mädchen. Ihre alleinerziehende Mutter (Juliane Köhler) bändelt gerade mit einem farblosen Tankstelleneröffner an. Was will sie nur immer von diesen Männern? "Sie beruhigen mich", sagt die Mutter, "Ich bin 37". So ist das also mit der Liebe bei den Erwachsenen. Wieder so ein fauler Kompromiss. Während eines Urlaubs zu Dritt an der Ostsee torpediert Dole das Heiratsvorhaben ihrer Mutter nach besten Kräften. Fließbandwitze erzählen. Die ganze Speisekarte bestellen. Ihr Arsenal der Nervenzerrüttung ist unerschöpflich. Henriette Confurius spielt diese Dole und sie ist das eigentliche Wunder von Mein erstes Wunder, dem Spielfilmdebüt von Anne Wild. So überzeugend hat noch keine das Grenzgebiet zwischen Kindheit und Jugend auf der Leinwand erkundet.

Dole hat die Phantasie eines kleinen Mädchens und einen Verstand, der weit davongaloppiert. "Was warst du eigentlich, bevor du meine Mutter warst?" fragt sie. Aber auf solche Fragen kommen keine Antworten, denn sie werfen die Erwachsenen auf sich selbst zurück und da wollen sie nicht hin. Am sonnigen Strand trifft Dole auf Herrmann (Leonard Lansink), einen Familienvater um die Vierzig, der mehr Spaß am Sandburgenbauen hat als seine pubertierenden Sprösslinge. In Herrmann ist das Kind im Manne etwas zu groß geraten. Für Dole erfindet er Geschichten von Elfen, die sich im trüben Ostseewasser tummeln sollen. Zwischen den beiden entsteht - wie soll man das beschreiben? Liebe wäre eigentlich das richtige Wort. Und schon gehen alle Kontrolllampen im Zuschauerhirn an. Aber wer den Missbrauchsverdacht frühzeitig ausschaltet, hat mehr von diesem Film. Manchmal ist Kino eben einfach eine Sache des Vertrauens und Anne Wild verdient es sich Szene um Szene. Sie hat das Gespür für Zwischentöne, die man gerade im deutschen Film so oft vermisst. In hellen ostseeklaren Bildern erzählt sie von einer großen, unschuldigen Liebe, die gegen die Unmöglichkeitsvorstellungen der Erwachsenenwelt ankämpft.

Nach dem Urlaub sehen sich Dole und Herrmann wieder und brennen durch. Doles Mutter, der Juliane Köhler ihr flatterhaftes Wesen leiht, und Herrmanns Frau (Gabriele Maria Schmiede) folgen ihrer Spur.

Während die Liebesgeschichte sich immer mehr ins Märchenhafte versteigt, beginnen Franziska und Margot ihr erwachsenes Leben zu hinterfragen. Auf einem Steg, der weit in die Ostsee hineinragt, treffen die beiden Erzählstränge wieder aufeinander, wird die unmögliche Liebe von der Realität eingeholt und eine glitzernde Rettungsdecke vom Wind weggetragen. "Mach die Augen zu", sagt Herrmann zum Abschied, "Was Du jetzt siehst, gehört Dir".

Man sieht nicht, was Dole sieht. Aber man weiß genau: Ihr gehört die Welt.

Martin Schwickert

D 2002 R&B: Anne Wild K: Wojciech Szepel D: Henriette Confurius, Juliane Köhler, Leonard Lansink