YOU CAN COUNT ON ME

Geschnittene Gefühle

Familienschicksal ohne Rühreffekte

In seinem Kinodebüt hält Theaterregisseur und Drehbuchautor Kenneth Lonergan ( Reine Nervensache ) alle Zutaten für ein schwülstiges Familienrührstück in der Hand. Die alleinerziehende Mutter Sammy (Laura Linney) führt mit ihrem 8jährigen Sohn Rudy im hübschen Scottsville ein bescheidenes Bankangestelltendasein. Ihr Bruder Terry (Mark Ruffalo) driftet haltlos durchs Leben und will sich nun in der heimischen Provinz vom seiner Lotterexistenz erholen. Die Geschwister - so erfahren wir aus dem Vorspann - sind als Waisenkinder aufgewachsen, und auch Klein-Rudy (Rory Culkin) leidet unter der Abwesenheit seines Vaters. Der Tisch ist gedeckt für herzzerreißende Familienkonflikte und ausufernde Versöhnungsszenarien.
Nichts davon passiert, denn Kenneth Lonergan zeigt sich an großen, dramatischen Gesten vollkommen uninteressiert. Dort, wo andere Tränendrüsen melken, greift Lonergan zur Schere. Zu Beginn steht der Provinzpolizist vor der Haustür und muss den Kindern die Nachricht vom tödlichen Autounfall der Eltern übermitteln. Die Kamera zeigt das Gesicht, in dem sich die hilflose Suche nach Worten abzeichnet. Als er endlich den Mund aufmacht, folgt ein schneller Schnitt, noch bevor etwas gesagt werden kann. Mit gezielten Auslassungen überspringt Lonergan die sentimentalen Klischees und konzentriert sich in seinem Geschwister-Drama auf den alltäglichen Kleinkrieg der Gefühle.
Die große Schwester hat ihr abgezirkeltes Leben fest im Griff: Job, Kindererziehung, Kirchenbesuche und die sexuelle Notversorgung durch einen langweiligen Gelegenheitsliebhaber sind genau aufeinander abgestimmt. Terry verachtet das ereignislose Leben in der Provinz, auch wenn seine Glücksuche in der großen weiten Welt nur wenig Erfolg hatte. Fast unsichtbar ist ihre geschwisterliche Verbindung. Vertrautheit und Verwundbarkeit liegen nah beieinander. Die Wiederbegegnung verändert beide gleichermaßen. Der phlegmatische Bruder mausert sich zum flippigen Ersatzvater, dessen Erziehungsvorstellungen allerdings erheblich von den Vorgaben der Mutter abweichen. Die praktizierende Katholikin Sammy hingegen entwickelt eindeutig lasterhafte Züge und legt schließlich sogar den Filialleiter flach, dessen Ehefrau immerhin im sechstem Monat schwanger ist.
Bei alledem vermeidet Lonergan angestrengte Katharsisprozesse und wirbelt das geschwisterliche Leben ohne eindeutige Zielvorgaben und moralisches Erkenntnisinteresse durcheinander. You Can Count On Me ist ein Film, der seine Charaktere mit Entdeckerfreude studiert und dabei auf immer neue Facetten stößt. Das sorgfältig ausgearbeitete Drehbuch verzichtet auf die Bevormundung der Figuren und die Hauptdarsteller Laura Linney und Mark Ruffalo bedanken sich dafür mit schauspielerischen Höchstleistungen.

Martin Schwickert

USA 2000 R&B: Kenneth Lonergan K: Stephen Kazmierski D: Laura Linney, Mark Ruffalo, Matthew Broderick