DAVID CRONENBERG ÜBER »TÖDLICHE VERSPRECHEN - EASTERN PROMISES«

Körperbilder

David Cronenberg über Körperlichkeit, warum Mord etwas Intimes ist und über seinen neuen Film »Tödliche Versprechen - Eastern Promises«


Die Kritik zum Film

Was hat Sie an dem Milieu der russischen Mafia interessiert?

Wenn man sich mit der Entwicklung in Russland beschäftigt, stellt man fest, dass sich dort nach dem Fall der Sowjetunion der Kapitalismus in einer sehr rohen, primitiven Form etabliert hat. In Russland kann man sehr genau sehen, wie nahe Kapitalismus und Kriminalität beieinander liegen.

In Ihrem Film spielen Tätowierungen eine wichtige Rolle. Wovon erzählen diese Körperbilder?

Tätowierungen sind in russischen Gefängnissen wie ein Pass. In den Bildern und Symbolen wird die ganze Lebensgeschichte des Kriminellen erzählt. Die Tatoos haben eine sehr komplexe Bedeutungsstruktur, die sich in den letzten 150 Jahren seit dem Zarismus in den russischen Gefängnissen entwickelt hat. Wenn einer etwa ein großes Kreuz auf die Brust tätowiert hat, heißt das nicht, dass er ein Christ ist, sondern dass er sich als Märtyrer sieht, der sein eigenes Leben im Dienste der kriminellen Bruderschaft opfert. Heute lassen sich die jungen Kriminellen irgendwelche modischen Tätowierungen machen und wissen gar nicht mehr, was diese Tatoos überhaupt bedeuten. Mit den Tätowierungen ist auch ein krimineller Ehrenkodex verbunden, der an Bedeutung verliert, weil die jungen Kriminellen nicht mehr die Regeln befolgen wollen.

Warum spielt die Veränderung des menschlichen Körpers in ihren Filmen so oft eine zentrale Rolle?

Der wichtigste Beweis der menschlichen Existenz ist der Körper. Ich bin Atheist. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod oder an karmische Wiedergeburt. Der Körper ist das, was wir sind. Wenn er stirbt, sterben wir auch. Wir haben kein Leben, keine Identität außerhalb unseres Körpers. Dennoch ist unsere Identität nicht allein genetisch bestimmt. Es gibt einen kreativen Willen, und wenn man wirklich will, kann man sich selbst neu erfinden, bis hin zu der Vorstellung, dass man auch seinen Körper verändern kann. Selbst wenn man sich nur die Haare färbt, hat das einen Einfluss auf die eigene Identität. Ich habe z.B. meine Augen vor ein paar Jahren lasern lassen. Das hat mich und mein Leben stark verändert.

Nach "History of Violence" haben Sie nun erneut mit Viggo Mortensen zusammengearbeitet...

Ja, und er zahlt mir einen Menge Geld dafür, dass ich ihn einstelle. Nein, im Ernst: In History of Violence sind wir sehr gut miteinander klar gekommen. Die Zusammenarbeit ging weit über das normale Verhältnis zwischen Schauspieler und Regisseur hinaus. Viggo ist Dichter, Maler, Fotograf, führt einen kleinen Verlag - er hat einen Sinn für Kunst im Allgemeinen, und seine Herangehensweise an einen Film entspricht der eines Regisseurs. Er macht eine Menge Recherchen, ist sehr kooperativ und braucht keine Ego-Trips.

Warum benutzen die Mafiosi in Ihrem Film Messer ?

Für mich ist Gewalt ein sehr intimer Akt der Zerstörung des menschlichen Körpers. Wenn man jemanden mit einem Messer umbringen will, muss man den Menschen fühlen, riechen und hören. Das beschreibt das Wesen der Gewalt sehr viel klarer. Ein Mord ist eine Tat der absoluten Zerstörung. Man zerstört eine einmalige Kreatur, die davor nicht existiert hat und danach nie wieder existieren wird. Ich nehme Mord in meinen Filmen immer sehr ernst.

Sie haben viele Filme im Bereich Horror und Science-Fiction gedreht. Beginnt mit "Eastern Promises" nun Ihre realistische Phase?

Eigentlich sind alle meine Filme realistisch. Manchmal eben in einem eher metaphorischen Sinn. Als ich 1979 Die Brut machte, habe ich immer behauptet, dass dieser Science-Fiction-Horror-Film in emotionaler und psychologischer Hinsicht das Thema Familie und Scheidung sehr viel realistischer zeichnet, als Kramer gegen Kramer, der zur gleichen Zeit in die Kinos kam - auch wenn auf der Leinwand nur fremdartige Kreaturen zu sehen waren.

Was ist Ihr innerer Antrieb beim Filmemachen?

Mit meinen Filmen begebe ich mich auf philosophische Entdeckungsreisen, in denen ich über die Wirklichkeit, über Schönheit, Licht, Sexualität und vieles andere mehr nachdenke. Meine Filme sind in gewisser Weise Selbstgespräche, zu denen ich das Publikum einlade.

Interview: Martin Schwickert