JEAN-PIERRE JEUNET

DAS EWIGE KIND

Jean-Pierre Jeunet über Waffenhändler, die Kraft der Fantasie und »Micmacs«


Der Film zum Interview

Ihre Filme haben sich bisher von politischen Themen weitgehend fern gehalten. Wie sind Sie auf das Thema Waffenhandel gestoßen?

Das war schon vor fünfzehn Jahren, als ich noch an Die Stadt der verlorenen Kinder gearbeitet habe. Der Schnittraum lag in einem Industriegebiet und gleich daneben war die Niederlassung einer großen Rüstungsfirma. Mittags waren wir immer im selben Restaurant wie die Angestellten der Firma. Und wenn man sich diese Männer anschaute, konnte man sich kaum vorstellen, dass diese netten Kerle den ganzen Tag darüber nachdenken, wie man Menschen möglichst effektiv töten oder verletzen kann.

Ist es bei diesem ersten Eindruck geblieben oder haben Sie noch weiter recherchiert?

In Vorbereitung auf Micmacs haben wir eine Rüstungsfabrik in Belgien besucht. Dort war man mit der Entwicklung einer Waffe beschäftigt, die in einem Panzer eine derartige Hitze entwickelt, dass die Menschen darin sterben, ohne dass der Panzer dabei zerstört wird. Das waren leidenschaftliche Technologen, die ich mit ihrer Begeisterungsfähigkeit sofort für einen Film unter Vertrag genommen hätte. Aber sie haben komplett verdrängt, was sie da eigentlich machen. Wenn man sie auf moralische Bedenken anspricht, sagen sie: Wir arbeiten für den Verteidigungsminister und nicht für den Angriffsminister. Aber natürlich wissen sie, dass ihre Waffen früher oder später in alle Welt verkauft werden.

Aber in Ihrem Film dürfen die Waffenhändler noch echte Schurken sein...

Micmacs ist ja eine Komödie und da arbeitet man natürlich mit Karikaturen.

Die Gruppe von Obdachlosen, die den Waffenhändlern das Handwerk legt, wirkt wie eine Superhelden-Gang auf Sozialhilfe.

Wenn ich anfange eine Geschichte zu schreiben, lande ich stets bei dem gleichen Motiv: David gegen Goliath. Die Obdachlosen sind als Cartoon-Charaktere angelegt. Die Referenz waren die Spielzeugfiguren in Toy Story. Jede Figur hat eine Begabung, die dazu beiträgt, dass sich die Geschichte weiterentwickelt.

In »Micmacs« bleiben Sie Ihren Stil treu, den Sie schon damals in »Delicatessen« entwickelt haben. Wie kam es zu diesem Stil?

Als Teenager habe ich mich eher für Filme wie Clockwork Orange begeistert. Ich mag einfach warme Farben, filme gern mit dem Weitwinkel, liebe seltsame Gesichter und den edlen Geist der Kindheit. In Frankreich werde ich manchmal kritisiert, dass ich altmodisch und nostalgisch bin. Aber für mich ist das ein Kompliment. Das heißt nicht, dass ich denke, dass früher alles besser war. Ich nutze ja auch die modernste Technologie für meine Filme. Aber was die Ästhetik angeht, mag ich alte Dinge lieber.

Die Obdachlosen treten dem Rüstungskonzern mit der Waffe der Fantasie entgegen. Woher kommt ihr Glaube an die Fantasie?

Die Fantasie hat mein Leben gerettet. Eigentlich sollte ich bis zur Rente in einer Telefongesellschaft arbeiten. Aber dann habe ich den Job gekündigt, weil ich Filme machen wollte. Es gibt einen schönen Satz: Jedes Kind ist als Dichter geboren, aber nur wenige bleiben dabei.

Interview: Martin Schwickert