Vivian Naefe

Kleine Gesten

Die Regisseurin über Familien, Publikum und ihren neuen Film »Der Geschmack von Apfelkernen«

Der Film erzählt von Verdrängungsprozessen in einer Familie über mehrere Generationen hinweg. Eine typisch deutsche Geschichte?

Der Film ist genauso wie die Romanvorlage in Deutschland angesiedelt, und da hat Erinnern und Vergessen natürlich auch immer etwas mit den Kriegsjahren zu tun. Selbst wenn die NS-Vergangenheit in dieser Geschichte nur peripher gestreift wird, kann man sich denken, dass der Großvater wahrscheinlich ein Nazi war, dass diese Tatsache im Machtgefüge des Dorfes eine gewisse Rolle gespielt hat und die Erinnerung daran hier, wie in vielen anderen Familien, unter den Teppich gekehrt wurde. Verdrängung ist oft ein generationsübergreifender Prozess. Ich kenne das auch aus meiner Familie. Mein Vater ist Jude. Mein Großvater mütterlicherseits war Kommunist. Obwohl meine Familie sozusagen "sauber" ist, habe ich bei meiner Großmutter gemerkt, dass sie vieles verdrängte, was in dieser Zeit geschehen ist. Verdrängung ist in jeder Familie ein Problem, das sich von Generation zu Generation vererbt. Aber das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Jedes Land hat etwas zu vergessen. In den USA vergessen sie Guantanamo. Die Franzosen vergessen, dass sie kollaboriert haben. Aber in Deutschland ist die historische Schuld natürlich am größten.

Wie vererbt sich Verdrängung?

In der Pubertät kämpft man gegen seine Familienstrukturen an. Man fragt sich: Wie kann das sein - ich bin so ein toller Mensch und ich komme aus dieser schrecklichen Familie? Vielleicht bin ich adoptiert. Vielleicht gehöre ich hier gar nicht hin. Und dann fängt man an das zu verarbeiten und merkt, dass man Teil dieser Struktur ist. Wir sind, was wir sind, durch die Familie. Wir kommen davon nicht los. Das Schreckliche ist ja, dass wir oft erkennen müssen, dass wir wie unsere Mütter und Väter sind und dass wir ihnen verzeihen müssen, um an unsere Kinder etwas Besseres weitergeben zu können.

Wie wichtig war Ihnen der Aspekt, dass die Familiengeschichte über die Frauenfiguren erzählt wird?

Da habe ich gar nicht so sehr drüber nachgedacht, weil das ohnehin meine Perspektive ist. Neunzig Prozent meiner Filme sind aus weiblicher Sicht erzählt. Ich kannte den Roman, die Heldin ist eine Frau, aus ihrer Sicht wird die Geschichte erzählt und auch alle anderen starken Figuren im Buch sind Frauen. Insofern war die weibliche Perspektive vorgegeben und das war für mich ein starker Anreiz. Aber es ist auch schön, einmal eine ganz andere Sicht einzunehmen. In meinem nächsten Film ist der Held ein Fußballtrainer und da ich ein großer Fußballfan bin, ist das für mich eine genauso interessante Perspektive.

Der Film wird auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, in denen die Figuren in den einzelnen Altersstufen von unterschiedlichen Darstellerinnen gespielt werden. Wie lässt man eine Figur durch verschiedene Schauspielerinnen hindurchscheinen?

Ich habe mir die jungen Darstellerinnen genau angeschaut, ihre Bewegungen studiert und einzelne kleine Gesten, wie etwa das Nesteln an einer Kette oder die ungelenke Art aus dem Wasser zu steigen, bei den älteren Schauspielerinnen weitergeführt. Diese Kontinuität in den Figuren über die verschiedenen Zeitebenen hinweg herzustellen, war eine echte Herausforderung. Aber mir war die komplexe Erzählstruktur sehr wichtig, auch wenn sie das Publikum ein wenig fordert.

Werden die Zuschauer im deutschen Kino zu wenig gefordert?

Ich glaube, das Problem beim deutschen Kino ist, dass kommerzielle Filme immer sehr platt daherkommen und darin jede Pointe oder dramatische Wendung dreimal durchtelefoniert wird. Auf der anderen Seite haben wir dann als Gegenentwurf das totale Arthouse-Kino, wie es etwa die "Berliner Schule" vertritt. Im amerikanischen Kino, auf das wir so gern herabblicken, sind die Grenzen zwischen ernsten und unterhaltsamen Filmen sehr viel fließender. Davon könnten wir in Deutschland noch etwas lernen.

Interview: Martin Schwickert