INTERVIEW MIT MARTIN SCORSESE

NATIVE AMERICANS

Martin Scorsese über "The Gangs of New York"


Der Film zum Interview


Nach "Zeit der Unschuld" kehren Sie erneut ins New York des 19. Jahrhunderts zurück, allerdings nicht aus der Upperclass- sondern aus der Unterweltperspektive. Was hat Sie an der Geschichte des "Five Points"-Destriktes interessiert?
Scorsese: Letztendlich reflektiert das 19. Jahrhundert in New York die Natur ganz Amerikas. In New York haben die verschiedenen Klassen, die Oberschicht, die armen Leute und die Unterwelt sehr eng nebeneinander gelebt. Amerika ist ja erst mit dem Ende des Bürgerkrieges wirklich ein Land geworden. Wenn man die amerikanische Geschichte kennt, weiß man, dass Gewalt ein Teil des Gefüges ist, aus dem schließlich das Land geworden ist, was wir heute kennen.
Welche Funktion hatten die Gangs in der damaligen Gesellschaft?
Scorsese: Die Gangs vertraten verschiedene Interessensgruppen. Und sie hatten Politiker, die sie deckten. "Bill der Schlachter" wird im Film als Anführer der "Native Americans" dargestellt. Von seiner Sorte gab es damals viele. Diese Jungs waren brutale Krieger, die jeden Abend durch die Bars zogen.
Salman Rushdie hat in einem Artikel Ihren Film mit "Herr der Ringe" verglichen ...
Scorsese: Ja, er hat geschrieben, dass "Herr der Ringe" das Gute und das Böse in Reinform präsentiert und dass es im Gegensatz dazu in den Bandenkriegen von New York weder Helden noch Bösewichte gibt. Die heutigen Kriege seien eher mit "Gangs of New York" zu vergleichen. Aber man versuche, sie wie "Herr der Ringe" aussehen zu lassen.
Stimmen Sie dem zu?
Scorsese: Ja absolut, obwohl wir nicht an die heutige Situation gedacht haben. Wir haben einen Film über eine bestimmte Epoche in Amerika gamacht und versucht, sie auf das Grundlegende zurückzuführen. Aber wenn DiCaprio und Day-Lewis gegeneinader kämpfen, bin ich in gewisser Weise gar nicht daran interessiert, wer gewinnt. In "Gangs of New York" gibt es keine große Schlacht, in der die Geschichte reingewaschen wird.
Statt dessen aber den darwinistischen Kampf ums Überleben ...
Scorsese: Zur damaligen Zeit kamen großen Einwandererwellen in New York an. Fremde mit anderer Hautfarbe und seltsamen Religionen. Was ist in so einer Situation die menschliche Natur? Was ist die erste Regel? Bekämpfst Du sie? Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass wir an den Punkt kommen, an dem das nicht mehr der Fall ist. Denn unsere heutige Welt ist dafür zu klein.
Welche Rolle spielten die irischen Einwanderer im amerikanischen Bürgerkrieg?
Scorsese: Diese Leute kamen aus einem Land, in dem eine enorme Hungersnot herrschte. Niemand wollte sie haben. Weder England noch Frankreich. Die einzige Chance war ein Schiff zu dem Land auf der anderen Seite des Atlantiks, das dich möglicherwiese willkommen heißt und offen für Menschenrechte ist. Dann kamen sie dahin und stellten fest, dass dort Krieg herrscht. Die irischen Einwanderer hatten kein Geld, und wenn sie die Uniform anzogen, bekamen sie drei freie Mahlzeiten am Tag. Die irischen Brigaden sind als keltische Krieger losgezogen, um zu beweisen, dass sie ein Recht haben, in diesem Land zu bleiben. Das Problem war, dass viele im Sarg zurückkehrten.
"Bill der Schlachter" sagt im Film: "Ein "Native" gibt sein Leben für sein Land". Was sagen sie dazu?
Scorsese: Das ist ein schwieriger Punkt. Ich bin da sicher anderer Meinung als Bill. Aber in der Geschichte der Menschheit haben viele Leute ihr Leben für ihr Land gegeben und ich bin nicht in der Position, sie zu verurteilen. Mich interessieren eher die Situationen, in denen sich die Leute wiederfinden und wie sie damit umgehen. Ähnlich wie in "Die Brücke" von Berhard Wicki oder in Oliver Stones "Platoon" sind die Leute hier Gefangene einer Situation.
... und dazu gehören auch die Gewaltexzesse?
Scorsese: Wer in "Five Points" gelebt hat - und ich habe die meiste Zeit meines Lebens auch in einer schlechten Gegend verbracht - für den gehörte die Gewalt zum Gefüge seines Lebens. Gewalt war damals keine Option, sondern eine Realität, mit der man jeden Tag konfrontiert war. Wir haben uns bemüht, die Gewalt nicht zu glorifizieren. Meinen Filmen ist schon immer vorgeworfen worden, dass sie zu gewalttätig sind. Aber es gibt keine Möglichkeit, das Leben dieser Menschen, die jeden Tag um ihre Leben kämpften, ohne die dazugehörige Gewalt zu zeigen.

Interview: Martin Schwickert