Tom Tykwer über »Cloud Atlas«

Smaller than Life


Der Film zum Interview

Tom Tykwer über »Cloud Atlas« und warum das Leben größer ist als wir es sind

David Mitchells Roman wurde als unverfilmbar gesehen...

Wenn man ein Buch so liebt, ist es nicht einfach, eine filmische Form zu finden, die eine für das Medium entsprechende, eigensinnige Ästhetik entwickelt und trotzdem der Essenz treu bleibt, die das Buch so aufregend macht. Wir wollten, dass die Liebhaber der Vorlage durch den Film neuartig, aber dennoch befriedigt auf den Stoff blicken können und eine Form finden, die auch den Autoren glücklich macht. Wir haben uns schon früh geschworen, dass wir unser Drehbuch zuallererst David Mitchell vorlegen. Wenn es ihm nicht gefallen hätte, hätten wir den Film so nicht gemacht.

Der Film hat eine vollkommen andere Erzählstruktur als der Roman.

Das Buch wandert pyramidisch in elf Kapiteln durch die sechs Epochen. Aber so kann man keinen Film aufbauen. Da würde man einen halbstündigen Block in einer Welt verbringen, um dann wieder in eine andere wechseln zu müssen. Das wäre für unsere Sehgewohnheiten zu anstrengend. Nach eineinhalb Stunden will man nicht noch einmal neue Leute kennen lernen, sondern in die Geschichte verstrickt sein. Deshalb haben wir die einzelnen Erzählungen aufgesplittet und ineinander verzahnt. Als wir begannen, das Drehbuch zu schreiben, haben wir erst einmal alle unsere Lieblings-Momente und -Szenen aus dem Roman auf Karteikarten geschrieben. Irgendwann war der ganze Boden damit übersäht, aber dadurch haben wir viele Verbindungen zwischen den verschiedenen Figuren und Zeitebenen entdeckt und erkannt, wo eine Geschichte bestimmte Punkte einer anderen aufnimmt und weitererzählt.

Was steht hinter der Entscheidung dieselben Schauspieler in unterschiedlichen Rollen auf den verschiedenen Zeitebenen einzusetzen?

Der Schlüssel zu einer kohärenten Erzählform war, in jeder Epoche mit demselben Ensemble zu arbeiten. Dadurch entstand die Verbindung der Figuren durch die Jahrhunderte hindurch, die Mitchell in seinem Roman andeutet - eine eher säkular zu lesende Art der Reinkarnation in Form von genetischen Strängen, die eine Evolution durchmachen. Das haben wir aufgenommen, und so war jeder Schauspieler ein genetischer Strang, der sich durch die evolutionäre Entwicklung hangelt. Tom Hanks' Figur etwa fängt als Übeltäter an und entwickelt sich über einige Um- und Irrwege zum Helden und Retter der Menschheit.

Wie würden Sie den gemeinsamen inhaltlichen Nenner der verschiedenen Erzählstränge beschreiben?

Der Film ist eine Untersuchung unserer menschlichen Natur, unserer Neigungen und der Fallen, in die wir immer wieder tappen. Es gibt in uns die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Wir streben nach einem wissenschaftlichen, moralischen oder auch emotionalen Fortschritt und arbeiten gleichzeitig daran, dass wir durch das, was wir erreicht haben, wieder zurückgebombt werden. Dennoch glaube ich, dass wir in diesem Wiederholungsmantra auch immer ein kleines bisschen vorwärts kommen.

Im Film durchdringen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unaufhörlich und ein Kernsatz lautet "Unser Leben gehört nicht uns allein".

Die Welt entwickelt sich eigentlich immer mehr hin zu einer teilenden, gemeinschaftlichen Lebensform. Natürlich gibt es immer noch krasse Diskrepanzen, aber auch deutliche Tendenzen, die darauf hinweisen, dass wir in Zukunft bezogener und vernetzter miteinander agieren werden. Cloud Atlas ist in jeder Beziehung ein Prototyp für diese Haltung, weil hier permanent unterschiedliche Perspektiven, Epochen und Ästhetiken zusammengefügt werden. Das gilt auch für den Herstellungsprozess des Filmes, den wir ja mit drei Regisseuren kollaborativ realisiert haben. Das Ego, das immer so stark mit künstlerischer Produktion verbunden wird, ist gerade in der Filmkunst eine überholte Vorstellung. Natürlich ist es wichtig individuelle Akzente zu setzen, aber heute entsteht Kunst vor allem aus dem Diskurs und der Auseinandersetzung mit Anderen.

Der Film beweist Mut zum Pathos.

Pathos ist natürlich ein etwas suspekter Begriff, aber eine bestimmte Geste der Hingabe, Leidenschaftlichkeit und Inbrunst gehört für mich zwingend zum Kino dazu. Durch solche Momente, in denen Filme eine Überhöhung wagen, die aberwitzig und trotzdem gelungen erscheint, habe ich das Kino für mich entdeckt. Wenn man genug Ernsthaftigkeit vorbaut, kann man es an bestimmten Stellen riskieren, eine große emotionale Intensität zu erzeugen, wie wir sie nun einmal im Kino suchen. Wir wollen dort ja auf eine Art mitgerissen werden, die uns im wirklichen Leben fehlt.

Interview: Martin Schwickert