NAZIS

Die Eier des Führers

Absonderliches aus der Hitler-Forschung

War Hitler ein Monster, weil sein Großvater Jude war und Adolf dadurch befürchtete, sein Blut "verunreinigt" zu haben? Oder liegt der Schlüssel zu einer Persönlichkeitsstörung eher in der unglücklichen Liebe zu seiner Halbnichte Geli? Hat, in früher Jugend, ein Ziegenbock des Führers Penis attackiert und verkürzt, oder war Adolf sowieso eineiig - eine Behauptung, die sich auf den fragwürdigen sowjetischen Autopsie-Bericht der Hitler-Leiche bezieht?
Wie absurd diese Spekulationen auch sein mögen, und wie wenig sie auch bewiesen wurden: gemein ist ihnen die Vorstellung, dass es eine "Schlüsselszene" oder ein "Schlüsselerlebnis" in Hitlers Biografie gebe, aus denen heraus sich der Gesamt-Adolf erklären ließe.
Der Journalist Ron Rosenbaum hat sich die quälende Mühe gemacht, die wildesten und prominentesten dieser "Theorien" vorzustellen, ihren Ursprung, soweit das möglich war, ausfindig zu machen, und vor allem darüber nachzudenken, was derlei "Theorien" wohl aussagen - über die, die sie aufstellen, wie über jene, die sie glauben wollen. Sein Buch Die Hitler-Debatte greift dafür auch auf Reportagen, Kommentare und Berichte der Münchner Post zurück, die in den 20er Jahren bereits Hitler und die "Hitleristen" verfolgte, beobachtete und anklagte. Unzählige Beleidigungsprozesse musste die "Post" führen, sie war eine der ersten Zeitungen, die 1933, nach der Machtergreifung, von den Nazi-Banden in Klump gehauen wurde: die Druckerei wurde zerstört, die Redaktionsräume wurden verwüstet, die Redakteure in KZs verschleppt, einige ermordet.
Die Idee etwa, Hitler sei Hitler, weil er sich über einen jüdischen Großvater in der Ahnengalerie ärgerte, setzt allerlei voraus: etwa dass "jüdischer Selbsthass" den Führer antrieb, was fast wie eine Entschuldigung klingt (und, nebenbei, den Juden zumindest eine Teilschuld an Hitler zuweist). Rosenbaum selbst tendiert dazu, Hitler als einen "politischen Verbrecher" (nicht "verbrecherischen Politiker"!) zu sehen, der Unterweltmethoden wie Erpressung, Fälschung und Mord in der Politik einsetzte, um seine persönliche Hab- und Machtgier zu befriedigen.
Auch die Größe der Gaze-Verpackungen spielt eine Rolle, wenn es darum geht, den Holocaust zu erklären: Weil der jüdische Arzt Dr. Bloch Hitlers Mutter falsch behandelte (was manche glauben beweisen zu können, in dem sie den Gaze-Verbrauch nachrechnen, der für die Brustkrebs-Behandlung draufging), rächte Hitler sich an allen Juden; so einfach soll Geschichte sein?
Allein: nicht nur die Psychologisierer gehen seltsame Wege. Der Autor und Regisseur Claude Lanzmann scheint inzwischen vollkommen durchgeknallt zu sein und nennt jeden Versuch, Hitler und den Holocaust erklären zu wollen, "obszön"; das Interview, das Rosenbaum mit Lanzmann in Paris führte, gehört zu den absonderlichsten Passagen des Buches.
War Hitler böse? Die flapsige Antwort des Historikers Bullock ("Wenn nicht er, wer dann?") führt dabei am Problem vorbei. Es gibt einerseits die Tendenz, Hitler zu pathologisieren, ihn als "echten Irren" hinzustellen, der nicht wußte was er tat (und insofern von Schuld freizusprechen wäre). Andererseits gibt es die Theorie der "Rechtschaffenheit": Hitler und seine Jungs waren tief und ehrlich davon überzeugt, dass Juden wie Bazillen im Menschheitskörper zu betrachten und daher auszurotten seien. Beide Ansichten über Hitler stehen auf tönernen Füßen.
Ein Drittes hat der Historiker und Philosoph Berel Lang ins Spiel gebracht: Hitler und die Nazis waren bewußt böse, sie begingen ihre Taten nicht obwohl, sondern weil sie wussten, dass es Unrecht war. Die ganze Nazi-Zeit wird so zu einer Art "Kunstwerk des Bösen", einem "work in progress": Die langsame Entrechtung und Entmenschlichung der Juden spricht ebenso für Langs These wie der sardonische Humor der Nazis, die über Auschwitz ein Schild hängten, auf dem stand: "Arbeit macht frei".
Rosenbaums Suche nach Antworten dauerte 10 Jahre. Er streift die Goldhagen-Debatte (Daniel Goldhagen bricht ein Interview mit Rosenbaum mit fadenscheinigen Gründen ab), besucht die wichtigsten Holocaust-Forscher der Gegenwart, hört sich ihre Argumente an (Hitler war wie Hamlet, unentschlossen und ein Nebbich - nein, sagt die Gegenseite, Hitler war Taktierer, der klug sein eigentliches Ziel verfolgte und verbarg: die Ausrottung der Juden), manchmal hat Rosenbaum Einwände, Zweifel - mit denen er dann das nächste Interview beginnt.
Neben einer sehr guten Übersicht über verschiedene Hitler-Bilder ist Rosenbaums vorzüglich geschriebenes Buch ein Leitfaden durchs Gestrüpp moralischer Unübersichtlichkeiten. Was bedeutet es, Hitler für ehrlich zu halten? Wie ist Schuld zu messen? Wenn man, wie Goldhagen, das deutsche Volk in Gänze in Haftung nimmt - wie weit spricht man dann Hitler frei?
Ein paar Antworten auf diese Fragen hat Rosenbaum gefunden. Man sollte sich viel Zeit nehmen, sie zu lesen und zu verstehen. Sein Buch ist es wert.
Erich Sauer
- weiteres zu Hitler siehe Adolf, die Pfeife -
Ron Rosenbaum: Die Hitler-Debatte. Explaining Hitler. Auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen Aus dem Amerikanischen von Suzanne Gangloff und Holger Fliessbach. Europa Verlag, München / Wien 1999. 672 S., 68,- DM ISBN: 3203815168