Die kleine Krimi-Rundschschau 59. Folge


und hier die vorherige-Ausgabe

Neunzehnhundertdreiundsiebzig erfand Richard Nixon den "War on Drugs" (ein Begriff, der umgangssprachlich übrigens auch "Krieg auf Drogen" bedeutet). Seitdem sind riesige Drogenkartelle entstanden, gigantische Bundesbehörden mit einem nicht minder gigantischen Personalapparat, Kriegseinsätze in Bolivien, Kolumbien, Mexiko - und gebracht hat es, was die Zielprojektion betraf, gar nichts. Das ist die These, die der US-Autor Dan Winslow in all seinen Büchern vertritt (in der kongenialen Verfilmung Savages seines Romans Zeit des Zorns ging das ein bisschen unter). Sein neues Werk heißt Kings of Cool und spielt vor Savages mit jenem Personal, das er bereits hatte sterben lassen (im Film überleben fast alle, aber das ist eben Kintopp). Chon und Ben (und ein bisschen Ophelia) bauen sich ihr Drogenimperium auf und geraten mit Alt-Hippies aneinander, die sich vom einstigen Haschdealen längst härteren Produkten zugewandt haben und notfalls auch die Mafia ins Spiel bringen, um ihre Interessen zu schützen. In der Winslow-typischen stakkatohaften Schreibweise (er erinnert auch hier stark an Ellroy) baut er einen spannenden Plot, der vor allem den Wandel des Landes von "Love and Peace" zu "Give me money!" schildert. Kings of Cool ist anfangs etwas mühsam zu lesen, da man den Eindruck hat, Winslow wolle nur sein eingeführtes Personal noch einmal benutzen (nicht nur im Krimi-Genre eine beliebte Sparmaßnahme: Warum neue Charaktere erfinden, die alten tunīs doch noch...!?), bis man merkt, wie genial nicht nur dieser Roman gebaut ist, sondern dass er wirklich eine notwendige Ergänzung darstellt.

Dass Dan Winslow, der jahrelang in Mexiko recherchierte, bei seinen bizarren Darstellungen der dortigen Drogenszene nicht übertreibt, ist in dem Band Drogenkorridor Mexiko. Eine Reportage von Jeanette Erazo Heufelder zu lesen. Heufelder fuhr durch den Nordwesten Mexikos und beschreibt dabei ein Land, das längst in den Händen der Kartelle gelandet ist. Die Gangster halten die Regierung aus, bestimmen die Landeskultur mit pittoresker Heldenverehrung und Popmusik und betreiben eine bezirksweise organisierte Wegelagerei, die an die Warlords im Mittelalter oder in Afghanistan erinnert. Lehrer haben Angst vor den Schülern (die damit drohen, dass ihr Vater zu einem Kartell gehöre), Taxifahrer vor an der Ampel zu lange wartenden Zivilfahrzeugen (wenn du hupst, kann es sein, dass jemand aussteigt und dich erschießt, erzählt einer), Mexiko wirkt wie Somalia, nur ohne Islamisten. Und dass die Macht der Kartelle eng mit der Drogenpolitik der USA verbunden ist, daran haben alle Beteiligten nicht den geringsten Zweifel. Zuletzt wählte Mexiko einen Präsidenten, dem sehr enge Verbindungen zum Drogenmilieu nachgesagt wurden. Und in den letzten Wochen allein wurden zwei Aktivistinnen ermordet. Denn die Macht der Verbrecher macht längst auch vor Frauen und Kindern nicht halt, auch wenn ihre "Ehrenkultur" in einem fort das Gegenteil behauptet.

Gestern noch im Radio und jetzt auf CD: Francis Durbridge. Am 25. November wäre er 100 geworden, der WDR wiederholte zur Feier des Tages ein Durbridge-Krimi-Hörspiel aus den 60ern, weil der allererste WDR-Radio-Krimi von 1949, auch ein Durbridge, nicht mehr sendefähig erschien. Und der Hörbuch-Verlag bündelt nun 5 Fälle auf 3 CDs zur Paul Temple Jubiläums-Kult-Edition: Curzon/Gilbert/Lawrence/Genf/Alex. Das schöne Booklet erklärt nicht die Auswahl (es gab immerhin 12 Mehrteiler in 21 Jahren) und nicht die Sprecherwechsel (zwei Paul Temples, vier Steve Temples, das liebe Frauchen des ermittelnden Kriminalschriftstellers), erzählt aber anschaulich, wie Durbridge im frühen Deutschen TV zum "Straßenfeger" wurde, und legt ein paar Presseartikel zum Meister der unübersichtlichen Handlung mit Cliffhängern bei. Sehr nett. Der wahre Durbridge-Kult fand aber doch im Fernsehen statt: 80% Einschaltquote und Morddrohungen gegen Wolfgang Neuss, der einmal den Mörder vorab verriet.

Mit einem ungesunden Körperbau, einem unermesslichen Appetit aber keinem Vornamen ausgestattet, wälzt sich Privatier Bröker durch den zweiten Fall von Lisa Glauche und Matthias Löwe. Nach einem ausgedehnten Frühstück tapst er in Campusmord in Bielefeld über eine Leiche im Unischwimmbad, mogelt sich in die Ermittlungen der Polizei, findet später auch noch eine Jahre alte Leiche und unterhält vor allem durch bramarbasierendes Herumsitzen beim Wein und intime Kenntnis der inneren Abläufe einer Universität. Die kennt Co-Autor Matthias Löwe von seinem Job als Mathematik-Professor in Bielefeld.

Viele Thriller-Autoren haben wir in Deutschland nicht, weil den meisten die genretypischen dicken Bücher mit viel Welt und über 600 Seiten wohl zu viel Arbeit sind. Anders Gerd Schilddorfer. Der hat gerade eine Trilogie mit dem Kollegen David Weiss hinter sich, ein halbes Dutzend Bücher in Planung und mit Falsch gerade eine eigene Trilogie begonnen. Das Solo-Debüt führt vom kolumbianischen Dschungel um den halben Globus und zurück zu wenig bekannten Ereignissen der Nazi-Zeit. Der damals technisch fortschrittlichste Windkanal und eine gigantische Geldfälscheraktion des Reichssicherheitshauptamtes kommen ebenso vor wie das Schicksal jüdischer Wehrmachtsangehöriger. Und natürlich ein serientauglicher Held, ein schon leicht angegrauter Pilot und Abenteurer, der uns problemlos über schwache Sätze hinweg hilft. Schilddorfer springt in kurzen Kapiteln hin und her und erzeugt einen Sog in seine geheime Welt, der auch nach der letzten Seite noch anhält. Band 2 ist schon fertig.

Fühlen Sie sich sicher? Jetzt gerade? Dann sollten Sie unbedingt Uta Eisenhardts gesammelte Geschichten über spektakuläre Gerichtsfälle lesen. Nach der Lektüre dieses Buches fühlt man sich nämlich nirgendwo mehr sicher. Man kann nicht rausgehen, weil dort ein Exhibitionist wartet, der seit 50 Jahren keine andere Möglichkeit findet, seine Aggressionen zu verarbeiten, als seine Genitalien zu entblößen. Und wenn nicht der, dann ein angegothter Würgermeister, der in Burgruinen Damen in Leder stranguliert. Aber es hilft auch nichts, sich zu Hause zu verschanzen. Wer in Ihre Wohnung möchte, der kommt da auch rein. Auch Verwandte. Nirgendwo sicher, niemandem trauen. Das könnte man schon denken, wenn man sich durch diese 25 Kriminalfälle gelesen hat. Die Gerichtsreporterin Uta Eisenhardt hat im Laufe ihrer Arbeit schon viele besondere Fälle erlebt. Und auch wenn das Buch "die blutigsten Kriminalfälle aus dem Gerichtsalltag" verspricht, sind es vor allem die von Eisenhardt recherchierten Biografien der Täter und Opfer, die diese Sammlung interessant machen. Mit diesen Lebensläufen zeigt sie, dass es nicht immer so einfach zu entscheiden ist, was richtig und was falsch ist. Wie geht man mit einer Mutter um, die ihren 28jährigen Sohn, der bei einem Unfall zehn Jahre zuvor zu einem schweren Pflegefall geworden ist, auf dessen möglicherweise eigenen Wunsch umbringt? Die versammelten Geschichten hat die Autorin möglichst anonym gehalten, aber den einen oder anderen Fall kennt man aus der Presse. Ein Großteil des Buches ist tatsächlich mit blutigen und erschreckenden Taten gefüllt, einige lesen sich wie ausgedacht, andere scheinen wieder recht nah.

Ein bisschen spät dran ist der Diogenes Verlag mit dem neuen Buch von Jason Starr. Dumm gelaufen ist nämlich eigentlich schon von 2003 und wirkt sogar noch etwas älter, klassischer. Starr erzählt vom Untergang eines kleinen Mannes, des jungen Mickey, der in den 80ern in einem Fischgeschäft arbeitet statt zu studieren, weil er den kranken Vater nicht allein lassen will. Stets hilfsbereit legt er einem Stammkunden ein paar kleinere Sportwetten aus und trudelt in ernsthafte Schwierigkeiten, als dessen Wetten allesamt verloren gehen und der nette Mann statt zu zahlen den Rüpel gibt. Mickey kriegt Krach mit den Buchmachern und hat Angst vor seinem Schuldner, dem plötzlich alle Mafia-Kontakte nachsagen. Da scheint nur noch ein Freund zu helfen, der ein "todsicheres Ding" abziehen will, das natürlich schief geht. Ein paar Leute sterben, der Mafiosi verschwindet und am Ende ist Mickey allein, hat aber eine Freundin. Ein fast bedeutungsloses Schicksal, das in Starrs einfachem aber menschlichen Stil zu einer fast versöhnlichen Geschichte wird.

Für Wer das Schweigen bricht wurde Mechtild Borrmann mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, und mit einem Verlagsangebot, das sie wohl nicht ablehnen konnte. Der Geiger erscheint nun bei Droemer und verbindet wieder einen Kriminalfall in der Gegenwart mit einer historischen Geschichte. Diesmal geht es um einen russischen Geiger, der 1948 in sowjetischen Straflagern verschwand, um den Mord an seiner Enkelin und um eine Stradivari. Geschickt verbindet Borrmann die Zeiten und lässt den Bruder der Ermordeten in Moskau auf beiden Seiten des Gesetzes und der Gerechtigkeit ermitteln.

Ihr erster Roman erfreute uns, weil die Hauptperson in Bielefeld nicht aus dem Zug steigen wollte, um hier auf Vaters Geheiß Jura zu studieren. Inzwischen hat die Autorin den Nachnamen geändert und schickt als Lucie Flebbe nun ihre immer noch mit Vater hadernde Heldin Lila Ziegler zur Recherche in einen Bochumer Pflegedienst. 77 Tage lang ermittelt sie etwas ziellos hinter statistisch auffälligen Todesraten bei den Betreuten her, lernt schwule Pfleger und lesbische Schwestern kennen und fuchst sich ins Bloggen ein. Der Alltag zwischen Stechuhr und Seniorenbaden ist glaubwürdig, die Entlarvung des Täters tritt in Lucie Flebbes mittlerweile 4. Krimi etwas zurück hinter der Auseinandersetzung Lila Zieglers mit dem Vater. Und das letzte Wort behält die Bloggerin.

In Münster ist Georg Wilsberg längst berühmter als die Wiedertäufer. Wenn auch Eingeweihte darüber streiten, wie er eigentlich aussieht. Seit der Ex-Stadtblatt-Journalist Jürgen Kehrer in den 90ern seinen Serien-Detektiv erfand, hat er im Buch und Fernsehen mehrmals die Gestalt gewechselt und sich als Leonard Lansink im ZDF erfolgreich weit von seinem Autor und Original entfernt. Da wäre sicher bald mal ein Wilsberg-Wiki fällig. Wilsbergs Welt ist keins, sondern bloß eine Kehrer-Kurzgeschichtensammlung mit und ohne Wilsberg. Einen Text hat er gar mit Sandra Lüpkes zusammen geschrieben, deren Serien-Ermittlerin hier auf den echten Wilsberg trifft, anlässlich einer Wilsberg-Open Air-TV-Vorführung mit dem Wilsberg-Schauspieler. Dass Kehrer privat was mit der Lüpkes hat, dass der Rechtsmediziner aus dem Münster-Tatort inkognito mitspielt, all so was macht manchen Reiz. Trotzdem: Wir wollen ein Handbuch mit Kommentaren zu allen 18 echten Wilsberg-Romanen, allen 36 teils von anderen Autoren stammenden TV-Filmen, einem Comic und den Stadtführungen auf Wilsbergs Spuren.

Vielleicht sollte man den Privatermittler als literarische Figur einfach mal eine Weile in Ruhe lassen; die nächsten 50 Jahre etwa. Selbst Jakob Arjouni kann dem Frankfurter Privatdetektiv Kayankaya nichts weiter abgewinnen als endlose Statements über Gott und die Welt. Knapp 50 Seiten braucht der neue Roman Bruder Kemal, um die Expositionen hinter sich zu bekommen - was für ein 220 Seiten-Buch ein bisschen lang ist. Endlos wird gequasselt, immer streng um Originalität bemüht, und dabei erfahren wir etwas über reiche Künstlergattinnen, verzogene Gören und Fundamentalisten, und zwar auf einem Niveau, das heute jeder TV-Krimi mühelos erreicht.

-aco/sab/vl/w-

Dan Winslow: Kings of Cool Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch. Suhrkamp, Frankfurt 2012, 351 S., 19,95 / Jeanette Erazo Heufelder: Drogenkorridor Mexiko. Eine Reportage Transit, Berlin 2011, 240 S., mit zahlr. Abb., 19,80 / Francis Durbridge: Paul Temple Jubiläums-Kult-Edition Hörverlag, München 2012, 1263 Min. auf 3 mp3-CD, 19,99 / Lisa Glauche, Matthias Löwe: Campusmord in Bielefeld Pendragon, Bielefeld 2012, 378 S., 12,95 / Gerd Schilddorfer: Falsch. Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, 671 S., 19,99 / Uta Eisenhardt: Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt. Die härtesten Fälle einer Gerichtsreporterin. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 265 S., 8,99 / Jason Starr: Dumm gelaufen aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes, Zürich 2012, 287 S., 14,90 / Lucie Flebbe: 77 Tage. Grafit, Bochum 2012, 255 S., 9,99 / Mechtild Borrmann: Der Geiger. Droemer, München 2012, 299 S., 19,99 / Jürgen Kehrer: Wilsbergs Welt Grafit, Bochum 2012, 187 S., 9,99 / Jakob Arjouni: Bruder Kemal Diogenes, Zürich 2012, 225 S., 19,90