Die kleine Krimi-Rundschschau 62. Folge


und hier die vorherige-Ausgabe

Seit elf Jahren schon wartete die Szene auf neue Leichen vom alten Mann des Regional-Krimis. Reinhard Junge, in der Frühzeit gleichzeitig Panzergrenadier und DKP-Mitglied, später Lehrer mit Berufsverbot und KZ-Opfer-Sohn, hat sich von seinem Debüt Klassenfahrt an immer zu gleichen Teilen um seine Heimat Ruhrgebiet und die Politik dort gekümmert. Inzwischen pensioniert, kommen nun in seinem elften Roman Achsenbruch auch die persönlichen Malaisen seiner etwas verlangsamt mitgealterten Figuren vor. Etwa der Stress des freien Videojournalisten Klaus Mager mit seinem Sohn und zwei Ex-Ehefrauen. Früher wollte der mal die Welt verändern, nährt er sich nun kümmerlich von kleinen Nachrichtenfilmen für den WDR. Und blüht sichtlich auf, wenn er mal um die Wette mit der tumben Polizei in einem Fall ermitteln kann, der unweigerlich in das Gestrüpp von Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft der lokal regierenden Sozialdemokratie führt. Diesmal explodiert der Mann einer ungeliebten Oberbürgermeisterin und alle Parteien werden nervös, weil sie sich und einander durchaus zutrauen, daran gedreht zu haben. Nur das LKA fällt lokalblind ein und macht eine Terroristenjagd aus dem Fall. Da muss Mager ja noch einmal mit dem pensionsreifen Kommissar Lohkamp zusammenarbeiten, um die Achse zwischen Rathaus und Wirtschaft zu brechen. Ruppig, ohne Illusionen, aber so aufrecht, wie man es vom Leben gebeutelt eben hinkriegt.

Der schmutzige Tonfall, wenn es um Drogen und Südamerika geht, ist seit Don Winslows brillanten Krimis en vogue. Dass manchmal Tonfall und überbordende Fantasie nicht ausreichen, ist in Krieg der Bastarde zu sehen. Ana Paula Maia bemüht sich zwar um kaputte Helden, fiese Morde und ausgiebige Milieuschilderungen, aber der Bildungsauftrag ("alles Scheisse") steht so sehr im Vordergrund, dass die Geschichte um ein armes Würstchen, das aus Versehen an einen Haufen Koks kommt, seltsam distanziert bleibt.

Agatha Christie ist tot. Aber eine Menge Leute wollen das noch immer nicht wahrhaben. Gäbe es sonst einen goldfinch-Verlag in Deutschland, der neben Reiseführern zu den britischen Inseln vor allem irgendwie englische Krimis, meist von Tee- und Plumpudding-verrückten Damen herausbringt? Und schickte im letzten, dem Mord am Lord, die Autorin B.a. Robin ihr Ermittlerpaar ausgerechnet ins Museum der großen verstorbenen Kriminalschriftstellerin Agatha-Christina Sotheby? Die gibt es natürlich gar nicht, dafür gibt es auch den Plot nicht, in dem sich eine giggelnde Design-Journalistin und ihr bräsiger Freund verlaufen. Beziehungsweise nur in den Notizbüchern der nahe am Original erfundenen Großmutter des Rätselkrimis. Irgendwie schwuppdich poppen die modernen jungen Leute in das ungeschriebene Buch und stehen fortan abwechselnd ehrfuchtsvoll und spöttisch zwischen Christie-artigen Figuren herum, spielen Miss Marple und Mr. Stringer nach und äußern sich despektierlich über die Usancen des Genres. Das ist insgesamt zwar eher albern als große Parodie, aber dafür deutlich leichter zugänglich als die ungleich stilsichereren Old-Crime-Hommagen Gilbert Adairs. Ganz und gar vorbildlich ist, dass der Verlag auf seiner Homepage jetzt schon eine Tippfehlerliste zum Buch anbietet.

Die Entführung eines kleinen Jungen in einem Flughafen, direkt unter den Augen des Wachpersonals: Diese ersten Seiten des neuen Romans Der Verrat von Val McDermid sind spannend zu lesen und lassen einen guten Thriller erwarten. Leider hat die schottische Starautorin dann eine ziemliche Soap-Oper drangehängt. Per Rückblende erleben wir Aufstieg und Fall einer Big Brother Schlampe, was für Leute, die beim Friseur die entsprechenden Zeitschriften lesen, irgendwie aufregend und vielleicht anspielungsreich sein mag. Für normale Menschen ist das vorwiegend langweilig. Und das Ende eine Frechheit.

Werlesiel gibt es nicht. Aber Sven Koch beschreibt das kleine Fischer-Örtchen an der ostfriesischen Küste genau genug, um sich darin von der ersten Seite an unwohl zu fühlen. Der Nebel kriecht herum, knorrige Friesen glauben an Gespenster, und nur eine junge Dorfpolizistin behält einen wachen Kopf. Beigeordnet kriegt sie einen älteren Kollegen aus der Großstadt, der sich gerne mit Verdächtigen prügelt und Vorgesetzte vergrätzt. Schön abwechselnd baut Koch die Psychologie seines Personals auf und die Rätsel seines Plots. Anfangs verschwindet nur ein Mädchen, bald schon stoßen die Ermittler in den Dünen auf den Friedhof eines Serienmörders, und dann wird es unaufhaltsam schneller und spannender. Sven Koch springt wie in einem Drehbuch von einer Szene zur anderen und zieht durchaus Zuschauer in seinen Bann, während Leser öfter mal über sprachliche Aussetzer stolpern. Und dass der Dirty Harry von Niedersachsen ständig den Silver Surfer zitiert, ist vielleicht auch ein bisschen dicke. (Dünengrab. Knaur, München 2013, 412 S., 8,99)

Wenn Garry Disher sich seinem kriminellen Helden Wyatt zuwendet, stehen in seinen Romanen so scheußliche Sachen wie "Die Gasse war leer, doch für Wyatt stellte das nur einen schwachen Trost dar." Weshalb wir Dirty Old Town schon wieder nicht gut finden und alles, was wir über Dishers Wyatt-Reihe schon vor zehn Jahren geschrieben haben, so stehenlassen können.

Die Blunk Konstante. 1 Krimi und 10 Theorien ist einerseits ein solide melancholischer Krimi über einen Privatermittler, der einst Freund und Freundin und Firma verlor und seitdem ein Leben in Zeitlupe lebt. Der trockene, unsentimentale Tonfall und der ökonomische Erzählstil ergeben einen spannenden Fall, dessen Auflösung am Ende allerdings etwas holterdipolter daherkommt. Am Ende einer Geschichte zu enthüllen, dass eine der zentralen Figuren längst starb, ist selten eine gute Idee. Aber selbst davon würde sich dieser erfreulich knappe Krimi erholen - hätte die Autorin und Ex-McKinsey-Angestellte Maike Braun nicht das dringende Bedürfnis verspürt, zwischen die Kapitel jeweils ökonomische Betrachtungen zu stellen, die jeweils auf anderthalb Buchseiten erklären, dass wir glücklich sind, wenn andere weniger glücklich sind und dass niemand mehr Geld ausgibt, als er muss. Einerseits erschreckt da die Banalität, die sich im Titel als "Theorie" ausgibt, andererseits hat es mit dem Buch fast nichts zu tun; weniger wäre mal wieder mehr gewesen.

Seit ihrem überraschenden Debüt Tannöd schreibt Andrea Maria Schenkel ihre kurzen Kriminalromane meistens von der Wirklichkeit und Sachbüchern ab. Das trug ihr schon mal einen Plagiatsprozess ein, den sie gewann, aber vor allem viel Erfolg. In Täuscher geht es nun um einen fast gesitteten Doppelmord in Landshut 1922, einen Tag vor dem ländlichen Massaker in Tannöd. Ein spätes Mädchen und seine Mutter sind tot, der etwas linkische Verlobte wird mit ihrem Schmuck aufgegriffen und schleunigst zum Tode verurteilt, noch bevor die Polizei zu Ende ermittelt hat. Im Zentrum von Schenkels Rekonstruktion steht aber eher das Gerede der aufgeregten Bürger. Das Böse stellen die sich offensichtlich wie im Kino vor und suchen bei jeder Abweichung vom gewohnten Trott lieber einen Schuldigen als eine Erklärung. Darüber hinaus finden die Leser diesmal beinahe niedliche Passagen voller Lokalkolorit und Heimathumor. Das Grauen dahinter kriecht nur langsam hervor.

Ein bisschen von der Wirklichkeit überholt wurde gerade Das Böse von nebenan, eine Sammlung literarischer Reportagen über Wahre Kriminalfälle aus der Provinz. Darin schildert Sibylle Tamin etwa den Fall einer Lehrerin, die einen Kollegen wegen Vergewaltigung anzeigte und Recht bekam. Der vermeintliche Täter saß fünf Jahre lang ein, bis ein Wiederaufnahmeverfahren seine völlige Unschuld feststellte. Seine Anklägerin entpuppte sich als notorische Lügnerin, die sich immerzu zum Mittelpunkt interessanter Geschichten machte und private und berufliche Gegner mit übelsten Nachreden überzog. Inzwischen wurde sie selbst verurteilt. Was aber die Fragen Tamins nicht erledigt: Was trieb sie damals? Was veranlasste Zeugen und Gericht, ohne Indizien ihrer erfundenen Erzählung vom Bösen zu glauben? Andersherum ähnlich verläuft ein Fall, in dem ein Dorf daran zerbricht, dass offenbar ein Großbauer jahrelang die Kinder der Nachbarn missbrauchte, aber alle die Idylle stillschweigend aufrechterhielten. Und nach dem Skandal des Prozesses dann ausgerechnet die Opfer als Nestbeschmutzer aus der Gemeinschaft ausschlossen. Sibylle Tamin erzählt vier Geschichten vom Abgrund im Hinterland und fühlt sich gründlich in die Umfelder ein. Die Täter werden nicht verständlicher, die Verschweiger und Ausflüchtler aber schon. Das Böse sitzt offenbar nicht nur hinter der Tat, sondern auch nebenan.

Die 80er waren jenes Jahrzehnt, in dem wir lernten, dass es Serienmörder gibt und woran man sie erkennt. In den 90ern gestand in Schweden ein bereits einsitzender Psychiatriepatient insgesamt 30 Morde, für acht davon wurde er nach seinen Geständnissen verurteilt. Der Fall Thomas Quick erzählt von diesen Geständnissen und wie sie zustande kamen, nämlich meistens unter Drogen, und im Detail waren sie zum Teil grotesk falsch. Der schwedische Journalist Hannes Råstam hat diesen Fall fürs TV aufbereitet, bevor er sein Buch darüber schrieb. Ihm gegenüber widerrief der "Mörder" Quick seine Geständnisse, schilderte den Ablauf der Ereignisse und warum er nachweislich die meisten der Morde gar nicht begangen haben konnte. Der Fall Thomas Quick - Die Erschaffung eines Serienkillers ist ein erschütternder Bericht über eine faule Staatsanwaltschaft, eine schlampige Polizei und eine drogenfreundliche Psychiatrie, die in den 90ern daran glaubte, "verborgene Erinnerungen" zu aktivieren sei ein therapeutisches Mittel. Das Ende des leider nicht sehr gut geschriebenen Buches erlebte Råstam nicht mehrŽ, er starb noch vor der Veröffentlichung an Krebs.

Weiß ein Tatort-Kommissar, wie Krimi geht? Gregor Weber, elf Jahre lang TV-Ermittler in Saarbrücken, hat jedenfalls gelernt, sehr knappe Szenen zu schreiben, auch noch die kleinste Nebenfigur mit subjektiven Perspektiven vorzustellen und dass man in einem Roman Sachen machen kann, die im Fernsehen einfach nicht gehen. Keine Vergebung etwa fängt mit einem einfachen Polizisten-Mord an und entwickelt sich zum ausgewachsenen Geheimdienstkrieg, bei dem scheinbar alle Parteien auf derselben Seite stehen. Jedenfalls ist sehr schwer zu übersehen, wer da wen verdeckt führt oder verführt, wer rechte oder linke oder islamistische Anschläge vortäuscht oder wirklich oder nur angeblich vorbereitet. Und ob es den Kriminalfall überhaupt gebraucht hätte, weil wir meistens ja doch bei einem desillusionierten Spezialkommandomann sind, der sich an irgendwem dafür rächen will, dass die Fronten so unklar sind. Ein Kinostoff.

Ferdinand von Schirach profitiert von der Tatsache, dass er als Anwalt behaupten kann, seine Geschichten beruhten auf "wahren Begebenheiten". Aber er pflegt auch einen faszinierend kargen Schreibstil. Als Erzähler ist ihm nichts Menschliches fremd, dennoch gerät er nie ins Schwüsteln, es gibt keinen voyeuristischen Blick auf seine Figuren, der Erzähler von Schirach gibt nicht vor, mehr über einen Menschen zu wissen, als dessen Geschichte hergibt. Der nach vorne drängende Stil seiner Erzählungen ist für Kurzgeschichten sehr effektiv, in dem Roman Tabu zieht es sich etwas, bis der verstörte und verstörende Künstler Eschenbach endlich mittendrin in einem Mordfall steckt, den wir ihm keine Sekunde glauben. Sein pfiffiger Anwalt übrigens auch nicht. Der taucht zwar erst auf den letzten 20 Seiten auf, ist trotzdem aber der Kern der Erzählung und hat die schönsten und lebendigsten Szenen des Buches. Sein Verhör eines Polizisten vor Gericht, der seinem Angeklagten Folter angedroht hatte, gehört in jedes juristische Seminar. Und täglich auf die Titelseite der BILD.

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Reinhard Junge: Achsenbruch Grafit, Dortmund 2013, 414 S., 11,99 / Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Wanda Jakob, A1 Verlag, München 2013, 221 S., 18,80 / B.a. Robin: Mord am Lord Ein Krimi der feinen englischen Art. Frankfurt/M., Goldfinch 2013, 263 S., 11,95 / Val McDermid: Der Verrat Aus dem Englischen von Doris Styron, Droemer, München 2013, 510 S., 19,99 / Sven Koch: Dünengrab Knaur, München 2013, 412 S., 8,99 / Garry Disher: Dirty Old Town Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2013, 323 S., 13,80 / Maike Braun: Die Blunk Konstante. 1 Krimi und 10 Theorien Stories & Friends, Lehrensteinsfeld 2013, 270 S., 18,90 / Andrea Maria Schenkel: Täuscher Hoffmann und Campe, Hamburg 2013, 238 S., 18,99 / Sibylle Tamin: Das Böse von nebenan. Wahre Kriminalfälle aus der Provinz. Mit einem Nachwort von Sophie Freud. Fischer, Frankfurt 2013, 231 S., 8,99 / Hannes Råstam: Der Fall Thomas Quick - Die Erschaffung eines Serienkillers Aus dem Schwedischen von Nike Karen Müller, Heyne 2013, 559 S., 17,90 / Gregor Weber: Keine Vergebung Albrecht Knaus, München 2013, 256 S., 16,99 / Ferdinand von Schirach: Tabu Piper, München 2013, 254 S., 17,99